Warum wurde Anna von Sachsen, die Prinzessin von Oranien, nicht im Freiberger Dom St. Marien, der protestantischen Begräbniskapelle der Albertiner, neben ihrem Vater, dem sächsischen Kurfürsten Moritz, und ihrem Bruder Albrecht beigesetzt? Warum beerdigte man sie in der alten, katholischen Begräbniskapelle der Wettiner im Meißner Dom, und dann auch noch anonym? Wenn Sie sich diese Frage bereits ebenfalls gestellt haben, dann sind Sie nicht der oder die Einzige. Diese Frage stellte man sich auch schon in der Vergangenheit wie z. B. der sächsische Historiker Johann Christoph Stößel (1729-1790) im Jahr 1776: "Ihre [Annas] Leiche ward so gleich Tages darauf [nachdem Anna am 18. Dezember 1577 gestorben war], wie wir in einer alten Handschrift gelesen haben, in die Stadt Meißen abgeführet, und am 20. December auf dem Schloße daselbst in die, an die Dom Kirche gebauete Churfürstl. Sächsische BegräbnißCapelle, ohne das geringste Gepränge, beygesetzet, wie denn ihre Ruhestelle auch mit keinen besondern Denckmale, bezeichnet worden ist. Weil seit dem Tode Herzog Georgens zu Sachsen, das Hauß Sachsen, Albertinischer Linie, sich einen neuen Begräbniß Ort, zu Freyberg, erwählet hatte, so fragete es sich wohl: Warum Anna nicht auch dahin, an die Seite ihres Vaters und Bruders, zur Ruhe gebracht worden seyn möchte?" (in: Versuch einer Lebensgeschichte der Prinzeßin Anna, Churfürst Moritzens Tochter, und Gemahlin Prinz Wilhelm des ersten von Oranien, S. 254, in: Sammlung vermischter Nachrichten zur Sächsischen Geschichte, Eilfter Band, Chemnitz 1776, bey Johann Christoph Stößel).
Der erste Verwandte von Anna, der im Freiberger Dom St. Marien seine letzte Ruhe fand, war ihr Großvater Heinrich V. der Fromme, Herzog von Sachsen, im Jahr 1541. Auch ihr Vater Moritz und ihr Bruder Albrecht wurden hier in den Jahren 1553 bzw. 1546 beerdigt. Nur ihre Mutter Agnes, die aus dem landgräflichen Hause von Hessen stammte, fand, wie es noch die Tradition des 16. Jahrhunderts war, ihre letzte Ruhestätte bei ihrem Vater in der Martinskirche in Kassel. Häufig liest man, dass Anna wegen des angeblichen Ehebruches, den man ihr vorwarf, nicht im Freiberger Dom St. Marien beerdigt worden sei, was falsch ist. Denn erstens finden Sie, liebe Leser und Leserinnen, bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein keine einzige Erwähnung eines Ehebruches unserer Anna. Vom Historiker Johann Christoph Stößel erfahren wir in seinem Werk "Versuch einer Lebensgeschichte der Prinzeßin Anna, Churfürst Moritzens Tochter, und Gemahlin Prinz Wilhelm des ersten von Oranien", das er im Jahr 1776 geschrieben hatte, dass weder die sächsischen noch die niederländischen Historiker etwas über einen Ehebruch von Anna von Sachsen wüssten. Und doch musste ihrer Meinung nach irgendetwas geschehen sein. Denn wie konnte Wilhelm von Oranien, der große Held der niederländischen Befreiungsbewegung, noch zu Lebzeiten von Anna eine neue Ehe mit einer gewissen Charlotte von Bourbon-Montpensier eingehen? Die Schuld müsste doch bei Anna liegen (in: Versuch einer Lebensgeschichte der Prinzeßin Anna, Churfürst Moritzens Tochter, und Gemahlin Prinz Wilhelm des ersten von Oranien, ebenda, S. 257-258). Also 200 Jahre nach dem Tod unserer Anna begann erst ihre Verunglimpfung, da in unserer Form und Art der Aufzeichnung der Vergangenheit Helden wie Wilhelm von Oranien per Definition die guten Menschen in der Geschichte sind. Daher musste Anna, da Wilhelm von Oranien zu ihren Lebzeiten zum dritten Mal geheiratet hatte, der schlechte Mensch sein, was besonders im 19. Jahrhundert bis heute durch Lügen, Intrigen, Manipulationen und völlig einseitige Geschichtsschreibung in unserer immer noch von den Männern bestimmten Gesellschaft zu dem völlig falschen Bild von Anna geführt hat – trotz des immer noch reichlichen zeitgenössischen Quellenmaterials, das zur wissenschaftlichen bzw. urkundlichen Findung der Wahrheit verwendet werden kann.
Zweitens wissen wir, dass Annas Cousine gleichen Namens, Anna von Sachsen (1567-1613), das 12. Kind ihres Onkels, des sächsischen Kurfürsten August, die ihren Gatten, den Herzog Johann Kasimir von Sachsen-Coburg (1564-1633), sogar mit zwei Männern betrogen haben soll, dem Italiener Hieronymus Scotus und dem Hofjunker und Vizemarschall Ulrich von Lichtenstein, ihre letzte Ruhestätte im Freiberger Dom St. Marien im Kreise ihrer Familie, ihrer Eltern und ihrer zahlreichen Geschwister, fand. Auch Sophie Dorothea von Braunschweig-Lüneburg-Celle (1666-1726), die ihre Ehe mit ihrem Cousin und Gatten Georg Ludwig von Braunschweig-Lüneburg-Calenberg, dem zukünftigen Kurfürsten von Hannover und König von Großbritannien, mit einem gewissen Philipp Christoph von Königsmarck gebrochen haben soll, fand ihre letzte Ruhestätte neben ihren Eltern, dem Herzog Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg-Celle und seiner Gattin Eleonore d'Olbreuse, in der Fürstengruft in Celle. Also hätte auch Anna im Falle eines begangenen Ehebruches ihrerseits neben ihrem Vater und Bruder beerdigt werden können. Wissen Sie überhaupt, wie vielen Frauen in der Vergangenheit, weil ihre Gatten sie loswerden wollten, Ehebrüche vorgeworfen worden sind?
Unsere Anna wurde in der alten, katholischen Begräbniskapelle ihrer Vorfahren im Dom von Meißen also nicht, weil sie angeblich Ehebruch begangen hätte, sondern aus religiösen Gründen anonym beerdigt. Nachdem Anna am 22. Dezember 1576 in Dresden eingetroffen war, hatte man sie, weil sie sich das Leben nehmen wollte – die schwerste Sünde im Christentum –, in eine lichtlose Kammer mit schwer verriegelten Fenstern und Türen eingesperrt. Den beiden Geistlichen Daniel Creyser und Petrus Glaser, die sie auf Anweisung ihres Onkels August immer wieder aufzusuchen hatten, erklärte sie stets, dass sie keinen Ehebruch begangen hätte. Den Empfang des Sakramentes verweigerte sie, da sie zuvor ihren Feinden hätte vergeben müssen: "…und vergib’ uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern". Dazu wäre sie jedoch nicht bereit. Die Sünden von Wilhelm von Oranien und seiner Familie – erklärte sie – wären tausendmal größer als die ihrigen. "Ihre [Annas] Sünde bestehe darin, daß sie sich [vom Onkel August] habe bereden lassen, 'den sodomitischen Bupen' ('den also nannte sie den Prinzen [Wilhelm von Oranien'] zur Ehe zu nehmen. … Sie habe erklärt, keine so große Sünderin zu sein, daß sie nicht auf Vergebung durch Christum hoffe. … Vom 19. Juli [1577] liegt wieder ein Bericht dieser beiden Geistlichen vor. Sie hätten ein über den andern Tag die Prinzessin besucht, mit ihr über Gottes Wort geredet und sie zur Reue und Buße und zur Geduld ermahnt. Sie sei aber nicht zum Empfang des Sakraments zu bewegen. Man solle das Sakrament denen geben, die es begehrten, aber niemand dazu zwingen. Sie könne auch ihren Feinden nicht vergeben, denn die Unbilligkeit, die man gegen sie geübt, sei so groß, daß 'pillich justicia dagegen gepraucht solte werden', was sie auch noch tun werde [Anna plante also immer noch, wie ihre Tante Sidonie im Falle ihres Gatten, des Herzogs Erich II. von Braunschweig-Calenberg, der sie loswerden wollte, indem er sie als Hexe zu diffamieren versuchte, sich an Kaiser Maximilian II., den sehr guten Freund ihres Onkels August, zu wenden]. Als man ihr vorhielt, wie sie das 'Vaterunser' recht beten könnte, und wie Christus gesagt habe, 'wo ihr nicht von Herzen euren Feinden ihre Fehler werdet vergeben, so wird euch mein himmlischer Vater also auch tun', habe sie erklärt, man könne ihr die Vergebung nicht abschneiden, sie richteten eine Papisterei an und wollten sie in den Bann tun." (in: Hans Kruse, Wilhelm von Oranien und Anna von Sachsen. Eine fürstliche Ehetragödie des 16. Jahrhunderts, S. 136, in: Nassauische Annalen, Bd. 54, 1934).
Anna starb schließlich am 18. Dezember 1577 kurz vor ihrem 33. Geburtstag an den Dauerblutungen, an denen sie seit Mai 1577 litt. Sie fand sich bis zu ihrem Tod nicht bereit, ihren Schuldigern zu vergeben und hatte auch weiterhin den Empfang des Sakramentes verweigert, denn dieses erhielt sie nur, wenn sie bereit war, ihrem Gatten Wilhelm von Oranien und seiner Familie zu vergeben. Daher bestattete man sie anonym in der alten, katholischen Begräbniskapelle im Meißner Dom und nicht in der neuen Begräbniskapelle im Dom in Freiberg. Wäre sie nicht eine Person von hoher adliger Geburt gewesen, hätte man sie, weil sie die Bedingungen ihrer Geistlichen für eine christliche Beerdigung – das Vergeben der Schuld den Menschen, die ihr Unrecht angetan hatten, und den Empfang des Sakramentes – nicht erfüllte, wie jeden anderen Normalsterblichen in gleicher Situation auf einem Acker anonym verscharrt.
Lesetipp: Maike Vogt-Lüerssen Die letzte Ruhestätte von Anna von Sachsen (1544-1577), der Prinzessin von Oranien