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02/03/2020

Sofonisba Anguisciola oder Anguissola

Ihr Sterbejahr war 1630, nicht 1625.

Kennen Sie die Geschichte „Des Kaisers neue Kleider“, die wie kein anderes Märchen zeigt, wie leicht wir Menschen zu manipulieren sind? Zwei Betrüger geben sich als großartige Weber aus, die auf ihren unsichtbaren Webstühlen die schönsten und teuersten Stoffe fertigen, die allerdings nur die Menschen sehen und bewundern können, die schlau sind. Da jedoch niemand von uns als dumm bezeichnet werden möchte, sind wir fast alle bereit das nachzuplappern, was jene Betrüger uns über ihre Stoffe erzählen. Lesen Sie unbedingt dieses Märchen. Nur ein kleines Kind wagt zu sagen: Der König hat ja gar nichts an.

Abb. 1: Sofonisba Anguisciola, Selbstporträt, 1554

Wie ich bereits in anderen Artikeln erklärt habe, ist in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts das Goldene Zeitalter der Kunsthistoriker angebrochen. Von nun an konnten und können jene alles behaupten, es wird ihnen sofort geglaubt und kann schon bald auf jeder Wikipedia-Seite nachgelesen werden, denn die Seiten, die sich auf Wikipedia mit der Geschichte und der Kunstgeschichte beschäftigen, sind schon lange voll im Besitz der Kunsthistoriker. Bis zumindest im Jahr 1962 lesen wir bezüglich des Sterbejahres der berühmten Malerin Sofonisba Anguisciola (Abb. 1), dass sie im Jahr 1630 im hohen Alter von 97 Jahren in Genua gestorben sei. Im Jahr 1629, also ein Jahr vor ihrem Tod, wurde Sofonisba noch von dem berühmten englischen Maler Anthonis van Dyck (1599-1641) persönlich aufgesucht, der bei seinem Gespräch mit ihr eine Zeichnung von ihr anfertigte und um diese Zeichnung (Abb. 2) herum Folgendes schrieb: „Bildnis der Signora Sophonisba, Malerin, nach dem Leben gemacht in Palermo am 12. Juli des Jahres 1629, als sie 96 Jahre alt war, noch guten Gedächtnisses, frischen Geistes und zuvorkommend; und obgleich durch das Alter ihr Augenlicht schwach geworden war, machte es ihr großes Vergnügen, Bilder vor sich hinstellen zu lassen, und indem sie dann ihre Nase mit vieler Mühe bis dicht an das Bild heranbrachte, erreichte sie es wirklich, etwas davon zu erkennen, worüber sie sodann große Freude zeigte. Als ich ihr Bildnis machte, gab sie mir manchen Hinweis dafür, so den, das Licht nicht von zu hoch aus einfallen zu lassen, auf daß nicht die Schatten in den Altersrunzeln zu stark würden, und manch andere gute Reden, wie sie mir auch einen Teil aus ihrem Leben erzählte, woraus zu erkennen war, daß sie eine wunderbare Malerin von Natur war, und der größte Schmerz, den sie hatte, war, durch das Abnehmen des Augenlichtes jetzt nicht mehr malen zu können: ihre Hand war noch fest, ohne irgendwelches Zittern.“ (in: Irene Kühnel-Kunze: Zur Bildniskunst der Sofonisba und Lucia Anguisciola, S. 83-96, in: Pantheon 20, 1962, S. 84).

Abb. 2: Anthonis van Dycks Aufzeichnung über seinen Besuch bei Sofonisba Anguisciola

Schauen Sie sich diese wichtige zeitgenössische Quelle, die heute noch vorhanden ist, selbst einmal an. In der zweiten Zeile finden Sie „anno 1629“ (= im Jahr 1629) und das Alter von Sofonisba Anguisciola zu dieser Zeit „96“. Nach 1962 hat nun wohl wie üblich einer der vielen cholerischen Autoritäten der Kunstgeschichte, der oder die keinen Widerspruch erlauben, beschlossen, dass Sofonisba Anguisciola nicht 1630 gestorben sei, sondern 1625. Und schon wenig später plapperten leider unsere 97% nicht zum Selbstdenken fähigen Mitmenschen, „da sie ja nicht dumm sein wollen“, diesen Blödsinn nach.

So finden wir jetzt diese Quelle, die man selbst lesen kann, in jeder Sprache unserer Menschheit mit dem Jahr 1624 und dem Alter 96 übersetzt. Dabei müsste doch jeder Fachmann oder jede Fachfrau wissen, dass Sofonisba Anguisciola nicht im Jahr 1528 oder 1529 geboren worden sein kann. Schließlich haben ihre Eltern erst im Jahr 1530 oder 1531 geheiratet. Und außerdem hat ihr zweiter Gatte, Orazio Lomellini, nach bewährter Tradition des 16. und 17. Jahrhunderts einen Erinnerungsstein anlässlich ihres 100. Geburtstages im Jahr 1632 errichten lassen, auf dem Folgendes zu lesen ist:
„Sophonisbae uxori ab Anguissolae Comitibus ducenti origine, parent nobilitated, forma extra-ordinarisque naturae dotibus in illustres mundi mulieres relatae ac in exprimendis hominum imaginibus adeo insigni ut parem aetatis suae neminem habuisse sit aestimata, Horatius Lomellinus ingenti affectus maerore decus hoc extremum, etsi tantae mulieri exiguum, mortalibus verum maximum dicavit, 1632. (= „To my wife, Sofonisba Anguissola, whose noble origin stems from the patent of nobility of the Anguissola line. Endowed in the extra-ordinary ability given by nature to form pictures of men was one of the most famous women of the world. Orazio Lomellini, in sorrow and grief for the loss of such an honorable and beloved woman, has dedicated this very small tribute to such an illustrious individual in 1632."), in: Herbert Cook, The Portraits by Sofonisba Anguissola, in: The Burlington Magazine for Connoisseurs 26, no 144 (1915), pp. 228-236).

Sofonisba Anguisciola wurde also im Jahr 1532 geboren, und sie starb im Jahr 1630. Ja, ich höre die Stimmen derjenigen, die sich nicht nachsagen lassen möchten, sie würden nur nachplappern und bei der letzten Zahl im Jahr 1629 würde es sich eindeutig um eine „4“ und nicht um eine „9“ handeln. Natürlich würde ich jenen erst einmal raten, einen Augenarzt aufzusuchen und sie dann zweitens bitten, mir doch einmal eine „4“, so wie sie zur Zeit von Sofonisba geschrieben wurde, zu schicken. Und während jene nun verzweifelt eine „4“, die wie eine „9“ aussieht, suchen werden, zeige ich Ihnen, meinen lieben Lesern und Leserinnen, wie die Zahl „4“ zur Zeit der großen Malerin wirklich aussah (Abb. 3, Abb. 4 und Abb. 5).

Abb. 3 (Ausschnitt der Abb. 1): Wie Sofonisba Anguisciola selbst die „4“ schrieb.
Abb. 4: Wie im Jahr 1658 die Zahlen von 1 bis 11 aussahen!
Abb. 5: Cosimo I. de’ Medici wird von Papst Pius V. zum Großherzog der Toskana erhoben, und diese Szene wurde vom Maler Jacopo Ligozzi signiert und datiert auf das Jahr 1591 (Ausschnitt)

2030 ist das 400. Todesjahr von Sofonisba Anguisciola. Bitte, helfen Sie mit, dass wir ihr besonderes Todesjahr nicht im falschen Jahr 2025 feiern werden. Erzählen Sie Ihren Freunden und Kollegen von dem erneuten Fehler der Kunsthistoriker und helfen Sie mit, ihn zu korrigieren. Leider ist mir dies zum Beispiel beim 2.000 Geburtstag von Agrippina der Jüngeren im Jahr 2016 nicht gelungen. Lesen Sie hierzu bitte meine folgenden Artikel:

Agrippinas Geburtsjahr
und
Falsches Geburtsjahr und falsche Büste

Herzliche Grüße, Ihre Maike

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