Die erste Begegnung von Hans Axel von Fersen und Marie Antoinette geschah am 20. Januar 1774: "Eines Abends, am 20. Januar 1774, auf dem Opernball, dem Treffpunkt der eleganten und auch der zweifelhaften Welt, steuert eine auffallend vornehm gekleidete schlanke junge Frau mit schmaler Taille und ungemein beschwingtem Gang auf ihn [Hans Axel von Fersen] zu und beginnt, von der Samtmaske geschützt, ein galantes Gespräch. Fersen, geschmeichelt von der Auszeichnung, geht vergnügt auf den munteren Ton ein, findet seine aggressive Partnerin pikant und amüsant, vielleicht macht er sich bereits allerhand Hoffnungen für die Nacht. Da fällt ihm aber auf, daß allmählich einige andere Herren und Damen sich, neugierig wispernd, im Kreis um sie beide scharen, er sieht sich selber und jene maskierte Dame Mittelpunkt einer immer lebhafteren Aufmerksamkeit zu werden. Endlich, die Situation ist bereits peinlich geworden, nimmt die galante Intrigantin die Maske ab: es ist Marie Antoinette - unerhörter Fall in den Annalen des Hofes -, die Thronfolgerin Frankreichs, die wieder einmal dem tristen Ehebett ihres schläfrigen Gemahls entwichen, auf die Opernredoute gefahren war und sich einen fremden Kavalier zum Plaudern geholt hat." (in: Stefan Zweig: Marie Antoinette - Bildnis eines mittleren Charakters, ebenda, S. 280).
Hans Axel von Fersen war ein sehr loyaler und enger Freund der französischen Königin Marie Antoinette, aber nicht ihr Liebhaber. Ich stimme hier vollkommen dem Historiker Verner von Heidenstam (1859-1940) zu, der diesbezüglich Folgendes äußerte: „Er [Hans Axel von Fersen] liebte die Königin leidenschaftlich, ohne daß je ein fleischlicher Gedanke diese Liebe verunreinigt hätte, die der Troubadoure und Ritter der Tafelrunde würdig gewesen wäre. Marie Antoinette hat ihn geliebt, ohne einen Augenblick ihre Pflichten als Gattin, ihre Würde als Königin zu vergessen.“ Wenn Sie, liebe Leser und Leserinnen, die Traditionen in der Vergangenheit wie ich kennen würden, kämen Sie zu dem gleichen Urteil. Im Prinzip ließen sich die Frauen in der Vergangenheit von ihren Zeitgenossen in zwei Kategorien einteilen: die tugend- und ehrsamen Frauen und die Huren bzw. Prostituierten. Es gab nichts dazwischen. Wer vor der Ehe und/oder während der Ehe ein sexuelles Verhältnis mit einem (anderen) Mann hatte, gehörte für seine Zeitgenossen zur zweiten Kategorie. Nicht nur hohen adligen Mädchen wurde von klein auf an anerzogen, dass die ganze Ehre ihres Hauses von ihrer Tugendhaftigkeit abhängen würde. Keine Tochter der Kaiserin Maria Theresia hätte es gewagt, dagegen zu verstoßen. Zudem haben wir nicht eine einzige schriftliche Quelle, die die Hypothese, Hans Axel von Fersen wäre der Liebhaber von Marie Antoinette gewesen, unterstützt. Obwohl bereits kurz nach seiner Begegnung mit der Königin das Gerücht entstand, Marie Antoinette und Fersen wären ein Liebespaar, verließ Letzterer Paris, um sich nach Amerika zu begeben. Deshalb sagte die Herzogin von Fitz-James zu ihm: „Wie, mein Herr, Sie lassen Ihre Eroberung [Marie Antoinette] im Stich?“ Die Antwort von Hans Axel von Fersen lautete: „Hätte ich eine gemacht, so würde ich sie nicht im Stich lassen.“
Dann führen die Befürworter für die Hypothese, Hans Axel von Fersen wäre der Geliebte der Königin gewesen, noch einen Brief von ihm an, den er an seine Schwester geschrieben hatte: „Ich habe den Entschluß gefaßt, niemals ein eheliches Bündnis einzugehen, es wäre unnatürlich … Der einzigen, der ich angehören möchte und die mich liebt, kann ich nicht angehören. So will ich niemandem gehören.“ Finden Sie in diesem Brief den Namen der Geliebten? Wir haben keine Ahnung, wen er so sehr liebte und nicht heiraten konnte. War diese unbekannte Frau verheiratet, und konnte er sie deshalb nicht heiraten? War sie von zu hohem Stande, und war deshalb ebenfalls keine Heirat möglich, weil ihr Vater oder ihr Vormund nie die Erlaubnis zu einer Eheschließung gegeben hätten? Übrigens war es Sitte, kompromittierende Briefe, also z. B. Liebesbriefe, nach dem Lesen sofort zu verbrennen. Es gibt bei Fersen Briefe von einer Josephine, die von den obigen Verfechtern als Briefe von Marie Antoinette bezeichnet werden, die den Pseudonym „Josephine“ benutzt haben soll, wofür sie aber ebenfalls keine schriftliche Quelle vorlegen können.
Hans Axel von Fersen hatte Marie Antoinette gesagt: „Ich lebe nur, um Ihnen zu dienen (aber nicht: um Sie zu lieben).“ Und „gedient“ hat er ihr wirklich. Einen besseren Freund als ihn hätte man sich in der für die Königsfamilie gefährlichen Zeit in Paris nicht wünschen können. Am 13. Februar 1792 gelang es ihm sogar erneut, unerkannt in Paris zu erscheinen. Und in diesem Fall lesen wir: „Obwohl er dort [in Paris] eine verläßliche Freundin oder vielmehr Geliebte hat, die unter Lebensgefahr bereit ist, ihn zu verstecken, begibt sich Fersen geradewegs vom Postwagen in die Tuilerien [wo sich französische Königspaar mit ihrer Familie befindet].“ (in: Stefan Zweig: Marie Antoinette - Bildnis eines mittleren Charakters, ebenda, S. 414). Fersen hatte also eine Geliebte. Dann kann seine angebliche Liebe für die französische Königin ja nicht unendlich groß gewesen sein. Leider wird der Name dieser Geliebten nicht genannt. Ist sie die Frau, die er leider nicht heiraten konnte?