Lucrezia Borgia (1480-1519) - Die schöne Papsttochter
Lucrezia Borgia (Abb. 27) kam am 18.4.1480 als Tochter des Kardinals Rodrigo Borgia (1431-1503), der im Jahre 1492 Papst werden sollte, und seiner derzeitigen Geliebten, Vannozza de Catanei (1442-1518), auf die Welt.
Als zweiter Sohn seiner Familie wurde Lucrezias Vater – wie es allgemein üblich war – schon als Kind für die Priesterlaufbahn bestimmt. Ob es auch sein persönlicher Wunsch war, interessierte seine Eltern nicht. Dank seines Onkels, Papst Kalixt III. (1378-1458), des einzigen Bruders seiner Mutter Isabella († 1468), stieg Rodrigo Borgia 1456 bereits zum Kardinal auf. Kurz vor dem Tod seines päpstlichen Onkels im Jahre 1458 ernannte man ihn noch zusätzlich zum Bischof von Valencia.
Doch wie so viele Geistliche seiner Zeit konnte er sich der Pflicht der Keuschheit nicht unterwerfen. Als großer, stattlich gebauter und sehr schöner Mann mit dunklen Augen, dunklen Haaren, seiner Adlernase, seinen sinnlichen vollen Lippen und seinem großen Charme hatte er es zudem nicht besonders schwer, Frauen zu verführen. Sein Hauslehrer, Gaspare de Verona, schrieb über ihn folgendes: "Er (Rodrigo Borgia) ist schön, von froher Miene und freudvollem Auftreten, begabt mit einer einschmeichelnden, erlesenen Beredsamkeit. Schöne Frauen werden von ihm auf bemerkenswerte Weise angezogen, heftiger als Eisen ... von einem Magneten." (in: Bradford, Sarah: Cesare Borgia. Ein Leben in der Renaissance. Hamburg 1979, S.28).
Bevor er Lucrezias Mutter, Vannozza de Catanei, kennen gelernt hatte, hatte er von drei verschiedenen Geliebten bereits drei Kinder: Pedro Luis (um 1462-1488), Girolama (1469-1483) und Isabella (1470-1541).
Sein Verhältnis mit der bereits verwitweten Vannozza begann anscheinend im Winter 1473. Als sie feststellte, dass sie schwanger geworden war, verheiratete ihr päpstlicher Geliebte sie mit dem päpstlichen Beamten, Domenico d'Arignano, dem das Eingehen einer Scheinehe mit Vannozza beruflich vermutlich große Vorteile einbrachte. Deren erstes Kind mit Rodrigo Borgia, ihr Sohn Juan, wurde somit im Jahre 1474 ehelich geboren. Dieses Privileg sollte ihr zweiter Sohn Cesar, der im April 1476 auf die Welt kam, nicht erhalten. Denn Domenico d´Arignano war bereits vor seiner Empfängnis gestorben. Als Vannozza zum drittenmal schwanger wurde, verheiratete Rodrigo sie mit Giorgio della Croce, einem weiteren Beamten der päpstlichen Kanzlei. In dieser anfänglichen Scheinehe kamen Lucrezia im Jahre 1480 und Jofrè im Jahre 1481 auf die Welt. 1482 endete die Beziehung zwischen Vannozza und Rodrigo Borgia.
Lucrezias Mutter, die durch ihre Verbindung mit dem spanischen Kardinal eine vermögende Frau mit drei Herbergen, einigen Gastwirtschaften und mehreren Wohnhäusern in Rom geworden war, betrieb nach der Trennung von ihrem geistlichen Geliebten noch ein einträgliches Nebengeschäft als Pfandleiherin, indem sie Geld gegen Juwelen auslieh. Ihrem dritten Mann, Giorgio della Croce, schenkte sie 1484 noch einen Sohn namens Ottavio, der jedoch schon 1486 gemeinsam mit seinem Vater sterben sollte. Daraufhin ging sie eine vierte Ehe mit dem hochangesehenen mantuanischen Humanisten Carlo Canale ein, der durch Rodrigo Borgia ebenfalls eine einträgliche Stellung in der päpstlichen Kanzlei erhielt.
Lucrezias Vater blieb natürlich nicht unbeweibt. 1489 begann sein Verhältnis mit der 14-jährigen, verheirateten Julia Farnese († 1524), die ihm 1492 eine Tochter namens Laura schenkte. Von zwei weiteren Geliebten bekam er angeblich noch die Söhne Giovanni (1498-1548) und Rodrigo (1503-1527).
Juan, Cesar, Jofrè und Lucrezia wuchsen nicht bei ihrer Mutter auf, sondern bei einer Verwandten ihres Vaters, Adriana dei Mila, einer Tochter seines Cousins Don Pedro. Sie war mit Lodovico Orsini verheiratet gewesen und bereits Witwe. Rodrigo Borgia, der seine Kinder über alles liebte, besuchte sie sehr häufig. Das Verhältnis seiner Kinder zu ihm war zeitlebens ausgesprochen herzlich. Besonders vernarrt war Rodrigo Borgia in seine überaus hübsche, aschblonde Tochter Lucrezia, die sich später als Erwachsene wie ihr Vater als charmant, hochintelligent, diplomatisch sehr geschickt, sehr beredt, heiter und lebenslustig erwies. Ihre Ausbildung entsprach zudem der einer Tochter von Adel oder von hohem Patriziat. Auch das Verhältnis der Geschwister untereinander war sehr harmonisch und herzlich. Besonders eng war die Verbindung zwischen Cesar und Lucrezia.
So wie die Töchter aus dem Adel wurde Lucrezia bereits mit 10 Jahren mit dem Grafen von Oliva, Don Cherubin de Centelles, verlobt. 1491 löste ihr Vater diese Verbindung jedoch, um seine Tochter im selben Jahr per procurationem mit dem Grafen Gasparo von Procida und Aversa zu verheiraten. Bevor diese Ehe aber körperlich vollzogen werden konnte, wurde sie schon 1492 mit päpstlichem Dispens gelöst, da Rodrigo Borgia mittlerweile auch mit diesem Schwiegersohn nicht mehr zufrieden war.
Am 25.7.1492 war Papst Innozenz VIII. gestorben. Als sein Nachfolger wählten die Kardinäle am 11.8. Lucrezias Vater, der am 26.8. schließlich zum Papst Alexander VI. gekrönt wurde. Wie seine Vorgänger und seine Nachfolger auf dem päpstlichen Stuhl betrieb er nun territoriale Familienpolitik und Vetternwirtschaft. Dabei verfügte er über den Besitz des Kirchenstaates, als ob er sein Eigentum wäre. Der Aufstieg seiner Kinder war für ihn von eminenter Bedeutung. Sein auffallend schöner, hochbegabter und ehrgeiziger Sohn Cesar wurde bereits 1492 zum Bischof von Valencia erhoben, obwohl dieser gar kein Geistlicher werden wollte. Von 1493-1498 trug Cesar den Titel Kardinal. Am 17.8.1498 legte er jedoch seine geistlichen Gewänder und Ämter ab und wurde vom französischen König Ludwig XII. († 1515) wegen seiner militärischen Hilfe bei der Besiegung des mailändischen Machthabers zum Herzog von Valence erhoben. Ein Jahr später ehelichte er zudem die Schwester des Königs von Navarra, Charlotte d'Albret († 1514), eine Nichte des französischen Königs.
Juan, Lucrezias ältester Bruder, der als schön, zügellos, unbeherrscht und arrogant beschrieben wurde, durfte sich seit 1493 Herzog von Gandia nennen und war seit dieser Zeit durch seine Heirat mit Maria Enriquez mit dem spanischen König Ferdinand II. von Aragón verwandt. 1497 wurde er dank seines Vaters noch zum Fürsten von Benevent, Terracina und Teano und zum Herzog von Sessa erhoben.
Lucrezias jüngster Bruder, der schöne, blondgelockte Jofrè, mußte wie Cesar die geistliche Laufbahn einschlagen, die er jedoch schon 1493 verließ, um 1494 eine Prinzessin aus dem königlichen Hause Neapel, Sancia von Aragón, eine uneheliche Tochter Alfonsos II., zu heiraten.
Für seine schöne Tochter Lucrezia hatte Alexander VI. 1493 Giovanni Sforza, den Grafen von Pesaro, einen Neffen Lodovico Sforzas, dem eigentlichen Herrscher von Mailand, zum Ehegatten bestimmt. Lodovicos Bruder, Kardinal Ascanio, hatte Alexanders Wahl zum Papst unterstützt. Da Mailand in Streit mit Neapel geraten war, suchte es überall Verbündete. Mit dem Papst eine nähere verwandtschaftliche Beziehung einzugehen, um ihn als Verbündeten auf seiner Seite zu wissen, war für Lodovico Sforza deshalb politisch äußerst wichtig.
Am 2.2. wurde die Papsttochter mit ihrem zweiten Gatten per procurationem vermählt. Giovanni Sforza, der bei seinen Untertanen reichlich unbeliebt war, und dem nachgesagt wurde, daß er an dem frühen Tod seiner ersten Gattin, Maddalena Gonzaga, im August 1490 durch seine Mißhandlungen ihr gegenüber nicht ganz unverantwortlich war, wollte angeblich nichts von einer Aufnahme der ehelichen Beziehungen mit seiner erst 13-jährigen zweiten Frau wissen.
Im Jahre 1496 nahm sich Alexander VI. vor, die Liebe zu seinen Kindern nicht mehr zu verbergen, und bekannte sich deshalb öffentlich – im Gegensatz zu seinen Vorgängern (mit Ausnahme von Innozenz VIII.) und seinen Nachfolgern – zu seinen Sprößlingen. Seit dieser Zeit gingen seine Söhne und Lucrezia im Vatikan ein und aus und bezogen zuweilen auch ihre Zimmer dort, um in der Nähe ihres Vaters sein zu können. Alexander zeigte sich bei seinen Empfängen stets in Begleitung seiner schönen Kinder, und Lucrezia saß neben ihrem Vater bei allen festlichen wie auch geschäftlichen Angelegenheiten. Gesandte aus allen Ländern wurden in ihrer Anwesenheit willkommen geheißen.
Da Alexander seine Macht und seinen Einfluß als Papst rücksichtslos ausgekostet hatte, um seine Familie, seine Verwandten und Freunde zu fördern, hatte er sich im Laufe der Jahre viele Feinde gemacht. So erstaunte es die meisten seiner Zeitgenossen nicht, als man seinen Sohn Juan am 16.6.1497 als Toten aus dem trüben Tiber zog. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Der Anblick seiner Leiche ließ jeden erschauern. Man hatte ihn schwer gefoltert. Der ganze Körper war mit Dolchstichen durchbohrt worden, bevor man seine Kehle durchschnitt. In Verdacht waren das Adelshaus der Orsini und die Sforzas geraten. Aber beim Mörder wird es sich vermutlich um einen eifersüchtigen Gatten oder Vater gehandelt haben, mit dessen Gattin oder Tochter Juan ein Verhältnis eingegangen war.
Im Jahre 1493 wurde zudem auch die zweite Ehe Lucrezias für aufgelöst erklärt. Als Grund wurde Giovanni Sforzas Impotenz angeführt. Dieser wehrte sich zuerst gegen diesen Vorwurf und behauptete selbst, unzählige Male mit Lucrezia geschlafen zu haben. Schließlich unterschrieb er jedoch die von Alexander gewünschte Erklärung, daß nämlich die Ehe nie vollzogen worden wäre. Die Auflösung der Ehe wurde am 20.12.1497 im Vatikan öffentlich verkündet.
Am 21.7.1498 verheiratete Alexander VI. seine 18-jährige Tochter mit dem 17-jährigen Don Alfonso, einem unehelichen Sohn Alfonsos II. von Neapel und Bruder von Sancia, Jofrès Gattin. Die Hochzeit, die im Vatikan stattfand, war eine reine Familienangelegenheit. Lucrezia, die sich nun Herzogin von Bisceglia nennen durfte, war entzückt von ihrem mittlerweile dritten Gatten, der als einer der schönsten Männer Italiens galt. Und auch Alfonso verliebte sich sofort in seine sehr schöne und charmante Gemahlin.
Von ihren Zeitgenossen wurde Lucrezia übereinstimmend als ungewöhnlich anziehend, sehr anmutig und ausgesprochen fröhlich und als eine begeisterte Tänzerin beschrieben. Niccolò Cagnolo aus Parma schilderte sie folgendermaßen: "Sie ist von mittlerer Größe und anmutiger Gestalt, ihr Gesicht ist eher lang, die Nase schön geschnitten, das Haar golden, die Augen haben keine besondere Farbe; ihr Mund ist ziemlich groß, die Zähne sind strahlend weiß, ihr Hals ist schlank und schön, ihr Busen bewunderungswürdig geformt. Immer ist sie fröhlich und lächelt." (in: Sarah Bradford, ebenda, S. 34).
1499 hatte Alexander VI. das politische Lager erneut gewechselt und ein Bündnis mit Ludwig XII. von Frankreich geschlossen, der das Herzogtum Mailand für sich beanspruchte. Außerdem planten Alexander und Ludwig XII., Neapel zu annektieren. Lucrezias Gatte Alfonso verließ daraufhin am 2.8.1499 heimlich Rom und suchte bei den Colonna, einem bedeutenden römischen Adelshaus, in Gennazano Zuflucht. Lucrezia, im siebten Monat schwanger, verstand die Welt nicht mehr. In herzzerreißenden Briefen flehte sie ihren Mann an, zu ihr zurückzukehren. Im September waren die beiden schließlich in Spoleto wieder vereint.
Am 1.11.1499 brachte Lucrezia ihr erstes Kind auf die Welt, ihren Sohn Rodrigo, der bereits 1512 sterben sollte. Ihr Glück währte jedoch nur kurz. Am 15.7.1500 mußte die Papsttochter mit einer neuen Gewalttat in ihrer Familie fertig werden. Ihr Gatte war nämlich auf seinem Weg vom Vatikan zum Palazzo Santa Maria in Portico, wo er mit seiner Gattin mittlerweile wieder wohnte, auf dem Petersplatz überfallen und am Kopf, am rechten Arm und am Schenkel schwer verwundet worden. Da den Angreifern die Flucht gelang, konnte nie geklärt werden, wer hinter diesem Attentatsversuch stand.
Alexander VI. ließ seinen Schwiegersohn sofort neben seinen privaten päpstlichen Räumen unterbringen und von seinen eigenen Ärzten behandeln. Lucrezia war - wie berichtet wurde - selbst "halb tot". Mit all ihrer Liebe pflegte sie zusammen mit ihrer Schwägerin Sancia ihren Gatten gesund. Sobald er einigermaßen wiederhergestellt sein würde, wollten sie nach Neapel reisen, denn Alfonso fühlte sich in Rom nicht mehr sicher.
Bevor dieser Plan jedoch in die Tat umgesetzt werden konnte, ermordete man ihn am 18.8.. Ein gewisser Brandolin beschrieb die erschütternde Szene, die von anderen Augenzeugen bestätigt werden konnte: "Auf Anraten der Ärzte wurden die Wunden schon verbunden, der Kranke (Alfonso) hatte kein Fieber mehr oder doch nur sehr wenig und scherzte im Schlafzimmer mit seiner Frau und seiner Schwester, als plötzlich ... Michelotto (Miguel da Corella), der unheimliche Diener Cesare Valentinos (Lucrezias Bruder), ins Zimmer eindrang. Er packte mit Gewalt Alfonsos Onkel und den königlichen Gesandten (Neapels), und nachdem er ihnen die Hände hinter dem Rücken verbunden hatte, übergab er sie zwei Bewaffneten, die hinter der Tür standen, damit diese sie in den Kerker führten. Lucrezia, Alfonsos Gattin, und Sancia, seine Schwester, schrien, von der Plötzlichkeit und Gewaltsamkeit des Vorgefallenen überrascht, Michelotto an und fragten, wie er es wagen könne, eine solche Missetat vor ihren Augen und in Gegenwart Alfonsos zu verüben. Er entschuldigte sich, so beredt er konnte, und erklärte, er gehorche nur dem Willen anderer, er müsse nach den Befehlen anderer leben, aber wenn sie wollten, könnten sie zum Papst gehen, und es wäre ein leichtes, die Freilassung der Verhafteten zu erwirken. Von Zorn und Mitleid überwältigt ... gingen die beiden Frauen zum Papst und bestanden darauf, daß er ihnen die Gefangenen herausgebe. Unterdessen erdrosselte Michelotto, der schurkischste aller Verbrecher und verbrecherischste aller Schurken, Alfonso, der ihn wegen seiner Missetat entrüstet getadelt hatte. Als die Frauen vom Papst zurückkehrten, fanden sie bewaffnete Männer vor der Zimmertür, die ihnen den Eintritt verwehrten und meldeten, daß Alfonso tot sei. Michelotto, der Urheber des Verbrechens, erfand die weder wahre noch auch nur halbwahre Geschichte, daß Alfonso, außer Fassung gebracht durch die Größe der Gefahr, in der er schwebte, da er gesehen, wie man Männer, die ihm durch Verwandtschaft und Wohlwollen verbunden waren, von seiner Seite gerissen hatte, ohnmächtig zu Boden gestürzt sei und daß aus der Wunde in seinem Kopf viel Blut geflossen und er so gestorben sei. Die Frauen, entsetzt über diese grausame Tat, von Angst bedrückt und außer sich vor Kummer, erfüllten den Palast mit ihrem Schreien, Jammern und Klagen, und die eine rief nach ihrem Gatten, die andere nach ihrem Bruder, und ihre Tränen hatten kein Ende ..." ( in: Sarah Bradford, ebenda, S. 161-162).
Der Geheimkämmerer Alexanders VI., Johannes Burchard, bestätigte Brandolins Schilderung und verwandte folgenden bedeutungsschweren Satz: Da Alfonso "sich weigerte, seinen Wunden zu erliegen, wurde er um vier Uhr nachmittags erdrosselt." (in: Sarah Bradford, ebenda, S. 162).
Sechs Stunden nach der Ermordung Alfonsos wurde dessen Leichnam in aller Stille in die Peterskirche gebracht und in der Kapelle Santa Maria delle Febbri hastig beigesetzt. Sein Mörder war angeblich Cesar Borgia, obwohl vermutlich in diesem Fall der Papst selbst den Tötungsauftrag gegeben hatte. Denn Alfonso hatte am Tag seiner Ermordung von dem Fenster seines Krankenzimmers aus auf Cesar, der im vatikanischen Garten spazierenging, mit einer Armbrust geschossen. Lucrezia, die ihren Vater wie auch ihre Brüder über alles liebte, war zutiefst erschüttert. Sie konnte die Geschichte von dem Mordversuch ihres Gatten Alfonso gegenüber ihrem Bruder Cesar nicht glauben. Zu tief war die Trauer um den geliebten, toten Gatten. Dabei war schon seit geraumer Zeit ein interner Machtkampf zwischen den Parteigängern Frankreichs (Cesar) und Neapels (Alfonso) im Vatikan ausgetragen worden.
Lucrezia weinte unaufhörlich um ihren toten Gatten, bis ihr Vater – genervt von ihrem Gewimmer – sie nach Nepi abschob, damit sie dort in aller Ruhe um Alfonso trauern konnte. Vor Weihnachten kehrte sie jedoch wieder zu ihrer Familie zurück, die ihr über ihren Kummer hinweghelfen wollte, indem sie unzählige aufwendige Spiele und Tanzveranstaltungen arrangierte. Die schnelle Rückkehr Lucrezias an ihren väterlichen Hof spricht dafür, daß mittlerweile auch sie an das Attentat gegen ihren Bruder Cesar glaubte.
1501 hatte sich Lucrezia angeblich selbst ihren vierten Gatten ausgesucht. Weshalb ihre Wahl auf den arroganten und kaltherzigen, vier Jahre älteren Alfonso d'Este († 1534), den ältesten Bruder Isabella von Mantua (Abb. 28), fiel, wissen wir nicht. Während alle Zeitgenossen von ihrer Schönheit, Klugheit, Bescheidenheit, ihrer mitreißenden Heiterkeit, ihrer Sanftmut und ihren angenehmen Umgangsformen schwärmten, hielten sie Alfonso d'Este für undurchsichtig, rachsüchtig und gefühlskalt. Er galt als sachverständiger Kenner alles militärischen Wesens, besonders des Geschützgußes, und in allen ballistischen Fragen. Vielleicht war Lucrezia von seiner großen, stattlichen Erscheinung beeindruckt; auf alle Fälle wollte ihr Vater nach der Ermordung ihres letzten Gatten ihr nun jeden Wunsch erfüllen, und aus politischen Gründen konnten die d´Este zur Sicherung der Romagna, einem bedeutenden Kirchenlehen, das für Cesar in ein Herzogtum umgewandelt werden sollte, sehr wichtig werden.
So fragte Alexander VI. bei Ercole d'Este, dem Vater von Alfonso, wegen einer Heirat ihrer Kinder nach. Dieser wiederum war nicht im geringsten begeistert von der Aussicht, die Tochter des Papstes als Schwiegertochter willkommen heißen zu müssen. Schließlich gehörten die d´Este zu den ältesten und angesehensten Fürstenfamilien Italiens. Außerdem waren Alfonso, der gewünschte Ehegatte, und Isabella, seine älteste Schwester, entschieden gegen eine verwandtschaftliche Verbindung mit diesen Borgia-Emporkömmlingen. Letztendlich jedoch zählte das politische Überleben mehr als die Forderungen des blauen Blutes. Ercole war nämlich bei dem zur Zeit sehr mächtigen Ludwig XII. von Frankreich in Ungnade gefallen, weil er im Jahre 1500 Lodovico Sforza in Mailand gegen ihn unterstützt hatte. Zudem hatte mittlerweile jeder italienische Fürst Angst vor den ehrgeizigen Plänen Cesar Borgias.
Nach einem monatelangen Kampf um den Ehekontrakt und wegen der hohen Forderungen Ercoles betreffs der Mitgift – Lucrezia sollte 200.000 Dukaten mit in die Ehe bringen – und seinen zusätzlichen Forderungen – er wollte als Vikar von Ferrara von seinen kirchlichen Abgaben befreit werden und verlangte außerdem noch das Bistum Ferrara für seinen dritten Sohn, dem Kardinal Ippolito –, kam es endlich zu einer Übereinkunft. Lucrezia erhielt von ihrem Vater schließlich eine Mitgift von 100.000 Dukaten in Bargeld und 75.000 Dukaten in Schmuck, Kleidern und Wertgegenständen. Dazu wurden Ferrara seitens der Kirche finanzielle Vorteile gewährt, die ebenfalls ungefähr der Summe von 100.000 Dukaten entsprachen.
In der Zwischenzeit vertrat Lucrezia vom 25.9.-17.10.1501 als Stellvertreterin des Oberhauptes der Christenheit die Angelegenheiten des Papsttums im Vatikan, da ihr Vater mit Cesar eine Inspektionsreise zu den neuerworbenen Besitzungen der Borgias in der Nähe Roms unternehmen wollte. Derweil besaß Lucrezia die Vollmacht, die gesamte Korrespondenz des Papstes zu öffnen.
Ende Oktober 1501 wurde zu Ehren Alfonsos von Ferrara und seiner Braut Lucrezia in Anwesenheit des Papstes im Hause Cesars ein festliches Abendmahl gegeben. Nach dem Festessen tanzten 50 Kurtisanen mit den Dienern Cesars und den anwesenden männlichen Gästen. Zuerst taten sie dies in ihren Gewändern, später jedoch vollkommen nackt. Schließlich kam einer der Gäste auf die Idee, auf den Boden des Tanzsaales Kandelaber mit brennenden Kerzen aufzustellen, zwischen denen Kastanien verteilt wurden, welche die Kurtisanen aufsuchen mußten, indem sie nackt zwischen den Kandelabern umherkrochen. Dieses Schauspiel bereitete dem Papst und seinen Gästen sehr viel Vergnügen, noch größeres aber das darauffolgende Spiel. Es wurden nämlich seidene Stoffe, gestickte Schuhe, Strümpfe und verschiedene Schmuckgegenstände als Preise für diejenigen Männer ausgesetzt, die am häufigsten mit den Kurtisanen geschlechtlich verkehren konnten. Dies mußten sie – damit sie nicht schummelten – im Beisein aller Anwesenden tun. Die 'Sieger' erhielten letztendlich die versprochenen Preise. Da auch Lucrezia bei diesem Fest anwesend war, mußte der Gesandte Ferraras in Rom daraufhin Ercole d´Este hinsichtlich seiner neuen Schwiegertochter mit folgendem Brief beruhigen:
"Lucrezia ist eine sehr kluge und reizende und auch ungemein liebenswürdige Dame. Sie ist nicht nur in jeder Weise außerordentlich anmutig, sondern auch bescheiden, liebenswert und sittsam. Überdies ist sie eine fromme, gottesfürchtige Christin (in der Tat war sie eine devote Anhängerin des franziskanischen Mönchsordens). Morgens geht sie zur Beichte, und in der Weihnachtswoche wird sie die Kommunion empfangen. Sie ist sehr schön, aber noch auffallender ist der Zauber ihres Wesens. Kurz, ihr Charakter ist so beschaffen, daß es unmöglich ist, sie irgendwelcher 'unheimlicher' Dinge zu verdächtigen …" (in: Sarah Bradford, ebenda, S. 211).
Am 9.12.1501 machte sich der Zug des Bräutigams – ohne den Bräutigam selbst – endlich von Ferrara nach Rom auf, um die Braut abzuholen. Die Borgias hatten derweil in Rom keine Kosten gescheut, um die arroganten d'Este durch übertriebenen Prachtaufwand und kostspielige Festivitäten zu beeindrucken. Am 30.12. fand im Vatikan die Trauung per procurationem statt. Als Stellvertreter des abwesenden Gatten diente Alfonsos Bruder Ferrante. Für Lucrezias vierten Ehemann war es die zweite Ehe. 1490 war er mit Anna Sforza (1473-1497), der jüngeren Schwester von Bianca Maria Sforza, verheiratet worden, die gegen Ende des Jahres 1497 an den Folgen einer Totgeburt gestorben war.
Am 6.1.1502 brach Lucrezia schließlich nach Ferrara auf. Für ihre prächtige Aussteuer benötigte sie mindestens 150 Maultiere. Ein venezianischer Beobachter berichtete sogar, daß ihr Zug aus insgesamt 660 Pferden und Maultieren und 753 Personen bestand, unter denen sich auch die Köche, Sattler, Kellermeister, Schneider und der Goldschmied der Papsttochter befanden. Am 6.1. verabschiedete sich Lucrezia endlich von ihrem vom Abschiedsschmerz gezeichneten Vater und von ihrem erst 14 Monate alten Sohn Rodrigo, den sie nicht mit in ihre neue Ehe nehmen durfte.
In Ferrara wurde sie dann am 1.2.1502 von der arroganten und ihr gegenüber stets feindlich gesinnten Schwägerin Isabella d'Este, der Markgräfin von Mantua, empfangen. Die ersten Monate in ihrer neuen Heimat fielen Lucrezia sehr schwer. Die Gefühlskälte im Hause d'Este war sie in ihrer Familie nicht gewohnt gewesen. Hinzu kamen noch Streitigkeiten mit ihrem Schwiegervater wegen ihrer Lebenshaltungskosten, die er ihr gern kürzen wollte. Aber dank ihrer Charme und ihrer Liebenswürdigkeit gewann sie zumindest schon bald das Herz ihrer Landeskinder und der Bediensteten.
Außerdem wurde Lucrezia bereits wenige Wochen später schwanger. Aber im Gegensatz zu ihrer ersten Schwangerschaft ging es ihr diesmal sehr schlecht. Als Cesar von ihrem Leiden hörte, schickte er sofort seinen eigenen Arzt Torella zu ihr und bat auch noch den berühmten Arzt Niccolò Masini aus Cesena um Hilfe. Schließlich saß er selbst neben dem Krankenbette seiner über alles geliebten Schwester.
Cesar, der so charmant wie Lucrezia sein konnte und der laut seines Zeitgenossen Castiglione der größte und bestaussehendste Mann unter allen Prinzen und Adligen war, wurde mittlerweile als erfolgreicher Heerführer bei seinen adligen Konkurrenten gefürchtet. Die Frauen schwärmten jedoch für diesen athletisch gebauten Mann mit seinen dunkelblonden gelockten Haaren und seinem blonden Kranzbart, denn Cesar war so stark, daß er mit einem einzigen Schwerthieb dem wildesten Stier den Kopf abschlagen konnte. Niccolò Macchiavelli († 1527), der Cesars Wagemut und Diplomatie bewunderte, erhob ihn sogar zum Ideal eines Fürsten, da er alle Fähigkeiten besaß, die notwendig waren, um die zerstrittenen Staaten Italiens endlich wieder miteinander zu versöhnen. Seit 1501 hatte Cesar von seinem Vater die ständige Oberherrschaft über eine der wichtigsten Provinzen des Kirchenstaates, die Romagna, übertragen bekommen. Als er seine erkrankte Schwester besuchte, beabsichtigte er gerade die Einnahme des Herzogtums Urbino, das die Zugänge zur Romagna und zur Toskana beherrschte. So verhaßt Cesars Annexionen beim Adel waren, so beliebt waren sie in der einfachen Bevölkerung, da dieser – in ihren Augen – Held endlich für ein Ende der seit Jahren währenden Korruptionen und Erpressungen sorgte.
Nachdem Lucrezia im siebten Monat ihrer Schwangerschaft am 5.9.1502 nach einer schwierigen Geburt von einer toten Tochter entbunden worden war und sich zudem das fast immer tödlich verlaufende Kindbettfieber zugezogen hatte, mußte man sogar um ihr Leben fürchten. Der um sie sehr besorgte Cesar erschien deshalb schon zwei Tage nach der Geburt wieder an ihrem Krankenbett, um ihr Mut und Trost zuzusprechen. Trotz seiner eigenen, unzähligen Sorgen – Ludwig XII. von Frankreich hatte ihn in einer schwierigen militärischen Situation ohne Unterstützung gelassen – verbrachte er zwei Tage bei seiner geliebten Schwester und verließ sie erst, als er Zeichen ihrer Wiedergenesung entdecken konnte. Wie rührend seine Anteilnahme um sie war und wie besorgniserregend ihre Krankheit verlief, zeigt folgende festgehaltene Szene: "As her temperature had gone up the doctors decided that she must be bled, and (Cesar) Valentinois himself held his sister´s leg and tried to distract her from the little operation by telling her funny stories. That night, between 7 and 8, she had a relapse and at 8 o' clock the next morning was given communion." (in: Maria Bellonci, The Life and Times of Lucrezia Borgia, London 1953, S. 205).
Aber auch die nächsten Jahre brachten der Papsttochter viel Kummer und Sorgen. Am 12.8. litten ihr Vater und ihr Bruder Cesar an hohem Fieber und schwerem Durchfall. Zudem mußten sie sich ständig übergeben. Beide hatten sich an der in Rom grassierenden Seuche angesteckt. Obwohl es zuerst so aussah, daß der Papst diese Infektionskrankheit überleben würde und Cesar sterben müßte, erholte sich Lucrezias Bruder, während Alexander VI. am 18.8. das Zeitliche segnete. Seine schnell verwesende Leiche wurde bereits bei Sonnenuntergang hastig und lieblos bestattet. Cesar floh unterdessen nach Neapel. Dort wurde er jedoch schon kurze Zeit später im Namen Ferdinands II. von Aragón verhaftet und nach Spanien überführt. 1506 gelang ihm von hier schließlich die Flucht nach Navarra, wo er am 12.Mai 1507 als Condottieri seines Schwagers, des Königs von Navarra, und Ferdinands II. von Aragón, ermordet wurde.
Lucrezia hatte also in den darauffolgenden Jahren nicht nur den Tod ihres Vaters, sondern auch den ihres geliebten Bruders und Beschützers zu beklagen. Am 25.1.1505 starb auch ihr Schwiegervater, und ihr Gatte Alfonso wurde der neue Herzog von Ferrara. In diesem Jahr gebar Lucrezia am 19.9. ihren Sohn Alessandro, der jedoch nur 25 Tage leben sollte. Nach einer Fehlgeburt im Februar/März 1507 brachte sie dann am 4.4.1508 ihren Sohn Ercole (II.)(† 1559), den Stammhalter, auf die Welt. Es folgte am 25.8.1509 ihr Sohn Ippolito († 1572), der als zweiter Sohn Geistlicher werden mußte.
Am 9.8.1510 belegte Papst Julius II. Lucrezias Mann mit dem Bann, da er sich mit den Franzosen verbunden hatte, und erklärte ihn aller Kirchenlehen für verlustig. Aber mit dem Tod dieses jähzornigen und cholerischen Papstes im Jahre 1513 konnte Lucrezia endlich auf bessere Zeiten hoffen.
Im April 1514 brachte sie einen Sohn, den sie erneut Alessandro nannte, auf die Welt. Aber auch dieser starb bereits im Jahr 1516. Am 4.7.1515 gebar sie Leonora, die 1575 ihr Leben als Nonne beenden sollte, und am 1.11.1516 schenkte sie ihrem Mann einen weiteren Sohn, der Francesco († 1578) genannt wurde. Nach der schweren Geburt ihres letzten Kindes, ihrer Tochter Isabella Maria, am 14.6.1519, die nur wenige Stunden am Leben geblieben war, erkrankte Lucrezia sehr schwer. Vieles spricht dafür, daß sie am tödlichen Kindbettfieber litt. Im Beisein ihres Mannes starb sie in der Nacht des 24.6.1519.
Von ihrer Familie war zu diesem Zeitpunkt keiner mehr am Leben. Ihr jüngster Bruder Jofrè war bereits im Jahre 1517 gestorben, und ihre Mutter, mit der sie bis zuletzt in einem lebhaften Briefwechsel gestanden hatte, folgte ihm am 26.11.1518. Seit 1488 war Vannozza zudem in Rom als unermüdliche Stifterin tätig. So versah sie die verschiedenen Kirchen mit kostbarem Schmuck und füllte die Hospitäler mit neuen Spitalbetten. Neben ihrem dritten Mann Giorgio della Croce und ihren Söhnen Juan und Ottavio fand sie schließlich in der Familienkapelle, die sie in der vornehmen Kirche Santa Maria del Popolo hatte erbauen lassen, ihre letzte Ruhestätte.
Als Herzogin von Ferrara war Lucrezia von ihrem Volk sehr geliebt worden. Auch das Herz ihres Gatten hatte sie im Laufe ihrer Ehe erobert. So schrieb Alfonso d'Este seinem Neffen Federigo Gonzaga nach ihrem Tod folgendes: "... Und nicht ohne Tränen kann ich dies schreiben, so schwer wird es mir, mich einer so lieben und süßen Gefährtin beraubt zu sehen, denn das war sie mir durch ihre guten Sitten und die zärtliche Liebe, die zwischen uns bestand. Bei so bitterem Verlust ..." (in: Ferdinand Gregorovius: Lucrezia Borgia, München 1982, S. 292). Während der Trauerfeierlichkeiten mußte er sogar aus der Kirche hinausgetragen werden, da er vor Schmerz über ihren Tod zusammengebrochen war und sein Bewußtsein verloren hatte.
Der größte Epiker Italiens, Ariost, widmete Lucrezia Borgia, die er sehr verehrte, in seinem Werk "Der rasende Roland" bei seiner Beschreibung der einzelnen d'Este-Familienmitglieder die meisten Zeilen:
"... Die zweite Schnur und nächste Folgerin,
Lucrezia Borgia? die mit jeder Stunde
An Schönheit wächst, an Tugend, am Gewinn,
Des Ruhms und Glückes, wie die junge Pflanze
Im lockern Erdreich wächst beim Sonnenglanze.
Wie Zinn zum Silber, Kupferblech zum Golde,
Die blasse Weide sich zum Lorbeer stellt;
Wie Ackermohn zur duft'gen Rosendolde,
Gefärbtes Glas sich zum Juwel verhält;
So stellt dereinst sich neben diese Holde,
Die ich verehr, eh sie betrat die Welt,
Jedwede Frau, die man als schön und weise,
Als ausgezeichnet und vollkommen preise.
... Lucrezia Borgia läßt in Ehren ragen
Die erste Inschrift, die sein Blick erfaßt,
Vor deren Reiz und Zucht in ihren Tagen,
Der Stern der alten Römerin erblaßt."
(in: Ariost - Der Rasende Roland, Winkler Dünndruckausgabe, Bd. I. 13. Gesang, S. 303-304 und Bd. II, 42. Gesang, S. 465).
Wenn Sie mehr Abbildungen von Lucrezia Borgia und ihrer Familie sehen möchten, schauen Sie sich bitte die Bilder in "Lucrezia Borgia und ihre Familie" an.
Rezension des Buches "Prettiest Love Letters in the world: Letters between Lucrezia Borgia and Pietro Bembo", 1503-1519 von Richard Shirley Smith and Hugh Shankland; David Godine Publisher, das seit Juli 2001 für 17.29 Euro zu erstehen ist:
Dieses Werk, das bereits im Jahr 1985 zum erstenmal unter dem Titel „Messer Pietro mio: Letters between Lucrezia Borgia & Pietro Bembo“ erschien und jetzt den Zusatz „Prettiest Love Letters“ erhalten hat, nur um die Verkaufszahl dieser Publikation voranzutreiben, betrachte ich als Betrug an allen Lesern und Leserinnen. Selbstverständlich erwarten jene – irregeführt durch den Titel – nun Liebesbriefe zwischen der Papsttochter Lucrezia Borgia, Herzogin von Ferrara, und ihrem Hofdichter, dem Venezianer Pietro Bembo (Abb. 29), vorzufinden. Stattdessen werden sie nicht nur die unterwürfigen und für unseren Geschmack zuweilen „schwülstigen“ Briefe des Letzteren an seine Dienstherrin Lucrezia Borgia, sondern auch seine Liebesbriefe an „f.f.“ lesen. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei der Letzteren um Nicola von Siena, die zu den Lieblingshofdamen von Lucrezia Borgia zählte und die in ihren Briefen an Pietro Bembo das Pseudonym „f.f.“ verwendete. Ihren Geliebten bittet sie daher, ihr ebenfalls unter diesem Namen zu schreiben. Jener hält sich jedoch zumindest in einem Fall nicht an diese Regel, wo er sie mit „Madonna N.“ anspricht (Brief XXX). Im Jahr 1505 findet diese Liebesbeziehung zwischen dem Hofdichter und der Hofdame schließlich ein abruptes Ende, da Nicola ein Mitglied der berühmten Trotti-Familie aus Ferrara heiratet.
Die Briefe, die in diesem Buch veröffentlicht wurden und die insgesamt betrachtet, einen sehr schönen Einblick in die Schreibweise der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bieten, verlieren jedoch an Wert, weil die Autoren und der Verlag, um die Verkaufszahlen ihres Werkes zu fördern, die schriftlichen Nachlässe von Lucrezia Borgia mit denen von Bembos Geliebten „f.f.“ zusammen als „ die Liebesbriefe von Lucrezia Borgia“ herausgegeben haben. Man braucht nicht wie ich, Historiker zu sein, um diesen Betrug aufzudecken. Man muss einfach nur die Briefe lesen. Lucrezia Borgia wie auch eine ihrer Hofdamen mit dem Namen Lisabetta von Siena setzen sich sogar als Schlichter in dem Streit zwischen Pietro Bembo und „f.f.“ ein (siehe Briefe XXII und XXIII). Es gibt zudem nicht einen einzigen wissenschaftlichen Beweis für die Behauptung der Autoren, „f.f.“ wäre Lucrezia Borgia gewesen. Wie nicht anders zu erwarten ist, mussten jene sich der Gerüchteküche um die Borgias bedienen, um überhaupt irgendwelche Argumente für ihre Annahme vorlegen zu können. So führen sie den Besuch Lucrezias am Krankenbett Bembos an, um ihre Vermutung zu untermauern. Dabei hatte die liebenswürdige Herzogin von Ferrara, wie es auch die englische Königin Elisabeth I. tat, nicht nur sämtliche ihrer kranken Diener und Dienerinnen und Hofdamen aufgesucht, um ihnen freundliche Worte zuzusprechen und ihnen Zuversicht auf ihre Genesung zu geben, sondern auch in aller Regelmäßigkeit die Hospitäler in ihrer Herrschaft mit ihrem Besuch bedacht, um ihren armen Untertanen ebenfalls die gleiche Aufmerksamkeit widerfahren zu lassen. Außerdem war den Autoren nicht einmal die Tatsache bewusst, dass die Herrscher, weiblich oder männlich, sehr selten selbst zur Feder griffen. Sie hatten ihre Sekretäre oder Hofdamen, denen sie ihre Briefe diktierten. So verkündigen die Autoren in ihrem Buch, dass alle Briefe von Lucrezia – sprich der gleichen Hand – geschrieben worden wären. Dabei können Sie im Brief XXXV des Pietro Bembo, geschrieben am 17. Juni 1513 in Rom, selbst nachlesen, dass dieser aus Eifersucht, weil sein Kollege Bernardo Bibbiena (Abb. 30) von Lucrezia Borgia einige Zeilen aus deren eigenen Hand erhalten hatte, ebenfalls die Herzogin von Ferrara bat, ihn bitte auch mit dieser Auszeichnung zu beglücken.
Bücher wie „Prettiest Love Letters in the world: Letters between Lucrezia Boriga and Pietro Bembo“ werden leider der wahren Lucrezia Borgia nicht im geringsten näher kommen. Aber dies war wohl von den Autoren und dem Verlag auch nie bezweckt gewesen!
Neutralität und Objektivität in der Wiedergabe historischer Ereignisse und Gestalten:
He did it again! Ja Volker Reinhardt, der Liebling des deutschen C. H. Beck Verlages, kann es nicht lassen, uns seine persönliche Meinung über bedeutende Gestalten in der Geschichte, seien es die Borgias oder Johannes Calvin, als objektive Geschichtsschreibung zu verkaufen (siehe die Rezension zu seinem Buch "Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf"). Auch sein Werk über die Borgia, "Der unheimliche Papst Alexander VI. Borgia 1431-1503", weist eine große Wissenslücke hinsichtlich der Borgia, der Sforza und anderer wichtiger Gestalten in der italienischen Geschichte des 15. und 16 Jahrhunderts auf und ist gefüllt mit der persönlichen Meinung des Autoren, die er durch ihm genehme, z. T. dubiose Quellen und durch sein nicht endenwollendes Heruminterpretieren zur "historischen Wahrheit" erheben möchte. "Unheimlich" ist in seinem Buch nicht der Papst Alexander VI., unheimlich ist die Vorgehensweise von Volker Reinhardt als Historiker, der nämlich sämtliche Regeln der Objektivität im Umgang mit historischen Quellen bricht (Fortsetzung meiner Kritik bezüglich Volker Reinhardt und seines Buches bei: Juan Borgia).
Lesen Sie bitte folgendes Schlusswort über den Papst Alexander VI. im Buch "The Renaissance Popes - Culture, power and the making of the Borgia myth" des Historikers Gerard Noel, das im Jahr 2006 in London herausgegeben wurde: "'The Borgia Myth' might have well been the name of an early historical crime novel – a novel to enthrall the world for all of 500 years. It is only in the last century that its veracity has been seriously called into question. Considerable damage had been done meanwhile, both to history and to the reputation of the Borgias. The myth is one of the greatest stories of all time – but myth it unquestionably is, rather than truth. The Borgias were people of their time, not ours ... It would be invidious to treat them as saints (although Lucrezia showed increasing saintliness towards the end of her life). But to treat them merely as arch-sinners shows a disrespect for historical accuracy, bordering upon outright contempt. ... In fact, there seems to have been remarkably little criticism of Rodrigo Borgia before he emerged from the conclave as Pope Alexander VI. ... It must also be said that some of the documents produced in the propaganda war against the Borgias are of questionable provenance. ... For the times he [Pope Alexander VI] lived in, Alexander's tolerance of criticism, both fair and foul, was quite amazing ... Many of the allegedly poisoned cardinals were not Alexander's enemies but, instead, his friends; conversely, many of his enemies outlived him. ... twenty-seven cardinals died during Alexander's eleven-year papacy, thirty-six cardinals died during the nine-year papacy of [Pope] Julius [II] ... Yet Alexander is regarded as a poisoner, whereas Julius is not. Surely this judgement is perverse. ... Cardinal Rodrigo Borgia is the most competent senior churchman of his time. He has managerial talents comparable to the chairman of the greatest multi-national of our own time. ... Alexander was entrusted with the sacred stewardship of the church; he served it well. Would that he had been less tolerant of the personal attacks upon himself. The vilification, which he treated good-humouredly, was used as source material for so much further calumny throughout the succeeding centuries. It has done his reputation terrible and lasting harm. ... Professor Michael Mallett on the vital effect of the hatred of Julius II on Alexander VI's reputation: 'It was this hatred which led the same Julius to torture confessions of crimes, supposedly committed at the comment of the Borgias, out of Alexander's servants, and to eradicate as far as possible every evidence of Borgia achievement.'" (in: Gerard Noel, he Renaissance Popes - Culture, power and the making of the Borgia myth, pp. 191-202).
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