Anna von Kleve (1515-1557) - Das Beste aus jeder Situation machen
Als Karl V. und Franz I. wieder einmal aus finanziellen Gründen zu einer Kriegspause gezwungen waren und im Frieden zu Nizza 1538 einen gegenseitigen 10-jährigen Waffenstillstand geschworen hatten, mußte sich Heinrich VIII., um einem gemeinsamen Angriff seitens dieser Monarchen gewappnet zu sein, einen neuen starken Verbündeten suchen. Denn durch den lautstarken Appell Papst Pauls III., endlich gegen den exkommunizierten englischen König militärisch vorzugehen, hatten Karl V. und Franz I. sogar den päpstlichen Segen für einen "Heiligen Krieg" gegen Heinrich VIII. erhalten.
So umwarben die englischen Gesandten in den Jahren 1538 und 1539 besonders die protestantischen deutschen Herrscher. Sehr gefragt war als Verbündeter Johann III., der Herzog von Kleve-Jülich-Berg und Graf von der Mark und von Ravensberg. Als dieser am 6./7.2.1539 gestorben war, übernahm dessen einziger Sohn, Wilhelm V. (1516-1592), die Regierung. Schon im Jahre 1538 war dessen Anspruch auf Geldern durch seine Mutter, Maria von Jülich-Berg († 1543), als Nachfolger des kinderlos verstorbenen Karl von Egmont von den Ständen der geldrischen Grafschaft anerkannt worden. Damit war er der mächtigste und reichste Fürst in Nordwestdeutschland und zudem ein ständiger Dorn in den Augen der Habsburger. Denn sein Herrschaftsbereich verband durch eine wichtige Straße das kaiserliche Italien und Österreich mit ihren niederländisch-burgundischen Besitzungen.
Für Heinrich VIII. mußte Wilhelm V. zudem der ideale Partner sein, zumal er nicht Lutheraner, sondern Erasmianer (Anhänger von Erasmus von Rotterdam) war, d. h., sein Glaube war ein milder Reform-Kompromiß zwischen Rom und Wittenberg. Außerdem gab es im Herzogtum Kleve-Jülich-Berg seit 1532 eine neue Kirchenordnung, durch die der Herzog ähnlich wie Heinrich VIII. als geistliches Oberhaupt fungierte.
Und wie es das Glück so wollte, besaß der Herzog auch noch zwei unverheiratete Schwestern, Anna (Abb. 55) (geb. am 22.9.1515) und Amalie (1517-1586), mit denen man das neue Bündnis durch eine Heirat festigen konnte. Seine älteste Schwester Sibylle (1512-1554) (Abb. 56) war seit 1527 zudem mit dem mächtigsten Fürsten der Lutheraner und dem Führer des Schmalkaldischen Bundes, Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen (1503-1554), verheiratet.
Heinrich VIII., der wirklich keinen besseren Bündnispartner finden konnte, schlug deshalb bereits im Frühjahr 1539 ein Bündnis und zur Festigung desselben eine Doppelheirat zwischen beiden Häusern vor. Anna und ihre jüngere Schwester Amalie standen für den englischen König als Bräute zur Auswahl. Wilhelm V. sollte die 23-jährige englische Königstochter Maria ehelichen. Was Heinrich VIII. jedoch nicht berücksichtigt hatte, war die Tatsache, daß die Erziehung der Töchter an den deutschen Fürstenhöfen nicht unbedingt der Erziehung an seinem Hof entsprach. So genossen gerade Anna und ihre Schwestern eine sehr strenge, konservative Erziehung, bei der mehr Wert auf ihre Handfertigkeiten als auf das Erlernen von Sprachen gelegt wurde. Anna selbst entwickelte sich somit zu einer geschickten Stickerin und Näherin, die aber leider nur in der deutschen Sprache lesen und schreiben konnte. Gesangstunden oder sogar das Unterrichten in einem Musikinstrument wurde wie das Erlernen von fremden Sprachen wie Französisch, Latein, Englisch als völlig ungeeignet für das weibliche Geschlecht im Hause ihres Vaters abgelehnt. Auch von den unterschiedlichen Tänzen und von den Moderaffinessen der französischen, italienischen und englischen Damen hatten Anna und ihre Schwestern nicht die allergeringste Ahnung.
Während die Heirat Wilhelms V. mit Maria nicht zustandekam, da im Jahre 1540 für den Herzog eine politisch interessantere Braut, die Nichte von Franz I., Jeanne d'Albret, zur Verfügung stand, konnte das Eheprojekt "Heinrich VIII. – Anna oder Amalie von Kleve" nach wochenlangen diplomatischen Verhandlungen zur großen Freude von Heinrichs Lordkanzler, Thomas Cromwell, Wirklichkeit werden.
Bevor der englische König jedoch sein "Ja-Wort" zum Ehevertrag geben wollte, mußte sein Hofmaler Hans Holbein der Jüngere im Sommer 1539 noch Anna und ihre Schwester Amalie von Kleve in Düren porträtieren. Heinrich entschied sich schließlich nach reiflicher Betrachtung der Porträts für Anna.
Nachdem nun alle Formalitäten erledigt waren, wurde am 6.10.1539 der Heiratsvertrag geschlossen. Schließlich holte der englische Gesandte, Lord Eduard Clinton, die Braut mit ihrem Gefolge von 263 Personen und 228 Pferden aus Düsseldorf ab. Am 11.12.1539 trafen sie in Calais ein. Durch einen Sturm, der sie zwei Wochen lang an der Weiterfahrt hinderte, erreichten sie jedoch erst am 27.12. Dover. Von hier sollte es in bestimmten Etappen nach London weitergehen. Als Höhepunkt war am 3.1.1540 die Begegnung mit dem König in Shooters Hill bei Blackheath geplant. Heinrich war jedoch so neugierig auf seine zukünftige Frau, daß er am 1.1.1540, verkleidet und mit nur einer kleinen Eskorte versehen, nach Rochester eilte. Dort gab er sich Anna zu erkennen und aß mit ihr und ihren Damen zu Mittag. Jedoch war er außerordentlich enttäuscht von seiner Braut, die sein Hofmaler viel zu schmeichelhaft dargestellt hatte. Denn Anna war alles andere als eine Schönheit. Sie war zwar groß und "wohlbeleibt", hatte langes, blondes Haar, aber eine etwas zu große Nase und durch ihre schweren Augenlider stets halbgeschlossene Augen. Zudem besaß sie laut Heinrich keine guten Umgangsformen, war schlecht gekleidet, stank, beherrschte keine Fremdsprachen, war keine gute Unterhalterin, spielte kein Musikinstrument, konnte nicht singen und verbrachte ihre Freizeit vorzugsweise mit Nähen und Sticken. Ihre Hofdamen, die sie aus Düsseldorf mitgebracht hatte, waren sogar noch weniger attraktiv und noch schlechter als ihre Herrin gekleidet! Dabei hatte der König eine wichtige Eigenschaft Annas, nämlich ihre außergewöhnliche Intelligenz, völlig unerwähnt gelassen. Was konnte Anna dafür, daß man ihr als junges Mädchen nicht das gleiche Bildungsangebot wie den jungen Damen am englischen Königshofe zugestand? Wenn Heinrich Anna gegenüber objektiver gewesen wäre, hätte er ihre schnelle Auffassungsgabe loben müssen. Denn innerhalb von kurzer Zeit erlernte sie die englische Sprache bis zur Perfektion.
Als Heinrich am 2.1. nach Greenwich zurückgekehrt war, erklärte er seinem Lordkanzler sofort, er könne Anna nicht ausstehen. Trotzdem begab er sich am 3.1. mit seinen Höflingen, den Adligen, den Edelleuten, den bedeutendsten Persönlichkeiten Londons und 5.000 bis 6.000 Reitern nach Shooters Hill, um Anna zu begrüßen. In der Öffentlichkeit war er ihr gegenüber zuvorkommend und charmant, so daß niemand ahnen konnte, was den König seit seiner ersten Begegnung mit Anna beschäftigte. Am 4.1. beriet er sich mit seinen Räten, wie er die Heirat verhindern könnte. Aber es gab nicht den geringsten Grund, der zu einer Verweigerung der Eheschließung berechtigte, und so fügte sich Heinrich VIII. endlich seinem Schicksal. Am 6.1.1540, einem Dienstag, fand in Anwesenheit zahlreicher Räte, Adliger und Abgesandter aus Kleve in Greenwich die Trauung statt. Anna von Kleve wurde Heinrichs VIII. vierte Ehefrau.
Laut Heinrich wurde diese Ehe jedoch nie vollzogen, obwohl er Anna jede oder jede zweite Nacht aufgesucht hätte. Vielleicht war an George Boleyns Aussage, Heinrich sei impotent, doch etwas Wahres dran. Aber das konnte natürlich in Heinrichs Augen nicht die Ursache sein! So wurde die Impotenz auf die Häßlichkeit der Braut zurückgeführt. Anna von Kleve war schuld, daß der König unfähig zum Beischlaf war. Dabei war Anna bei hoch und niedrig sehr beliebt. Besonders das einfache Volk bewunderte und verehrte sie als Königin, die soviel Selbstbewußtsein ausstrahlen konnte.
Aber wie sah es mittlerweile mit Heinrichs Schönheit selbst aus? Schon lange war er nicht mehr der athletisch gebaute, schöne Jüngling wie zu Beginn seiner Herrschaft. Wie so viele Fürsten seiner Zeit litt er schon als junger Mann an Freßsucht. Beim Essen und Trinken kannte er fast keine Grenzen. Und es ging nicht nur ihm so! Sein neuer Schwager, der Kurfürst von Sachsen, war so ungeheuerlich fett, daß nur ein einziges Pferd, ein riesiger friesischer Hengst, in der Lage war, ihn zu tragen, ohne gleich zusammenzubrechen. Und Karls V. Freßsucht wurde mit zunehmendem Alter sogar geradezu lebensbedrohlich. Da Heinrich in jungen Jahren viel Sport trieb, schlugen seine Freßorgien nicht merklich aufs Gewicht. Seitdem er jedoch am 24.1.1536 bei einem Turnier vom Pferd gefallen und zwei Stunden lang bewußtlos geblieben war, nahm er an Turnieren und großen Jagden nicht mehr teil. Das Ergebnis war, daß er mittlerweile einem unförmigen, aufgedunsenen und feisten Koloß glich. Sämtliche Muskeln hatten sich in schieres Fett verwandelt.
Heinrich, der Egoist par excellence, selbst häßlich und unansehnlich geworden, war schon nach wenigen Monaten nicht mehr bereit, weiterhin mit seiner häßlichen Frau zusammenzuleben. Es war ihm völlig egal, daß er damit nicht nur Anna und ihren Bruder, den Herzog von Kleve-Jülich-Berg, zutiefst verletzte, sondern auch den Plan Cromwells und seiner Minister, die Lutheraner als zuverlässige Bündnispartner zu gewinnen, zunichtemachte. Nein, Heinrich sah nicht ein, nur wegen des Bündnisses weiterhin mit Anna verheiratet zu bleiben. Die Unterstützung der Lutheraner glaubte er, auch anders gewinnen zu können, und ließ deshalb sogleich einige adlige Anhänger des Papstes und ein paar Äbte hängen, strecken und vierteilen. Außerdem hatte er sich neu verliebt. Seine Auserwählte war die erst 15-jährige Katharina Howard (Abb. 57), eine Cousine seiner zweiten Frau Anne Boleyn.
Katharina war ihm erst nach seiner vierten Vermählung am Hofe von Anna von Kleve aufgefallen, deren Hofdame sie war. Ihre Zeitgenossen beschrieben sie als zierlich, sehr klein, aber eher anmutig als schön, lebenslustig, albern, ausgelassen, egozentrisch, naiv und nicht besonders feinfühlig. Mit ihrem Motto "Kein anderer Wille als der meine" war sie weder am Hofe noch beim Volke sehr beliebt. Im Gegensatz zu Anna schien sie wirklich von beschränkter Auffassungsgabe gewesen zu sein. Für Heinrich aber war sie die "Rose ohne Dornen", die ihm durch ihre ansteckende Lebenslust seine Jugend wiedergegeben hatte.
Aber natürlich brauchte er wie üblich noch einen Schuldigen, der ihm die Ehe mit Anna und den damit verbundenen Ärger eingebrockt hatte, und fand ihn schließlich in seinem Geheimsiegelbewahrer, Lordkanzler, Staatssekretär und Generalvikarius Thomas Cromwell, der am 10.6.1540 wegen angeblichen Hochverrates verhaftet und in den Tower gebracht wurde. Mit Hilfe von Halbwahrheiten und glatten Lügen wurde er ohne Gerichtsverhandlung nur durch einen Parlamentsbeschluß verurteilt. Die Vorwürfe waren, daß er ein verabscheuungswürdiger Ketzer sei, der ketzerische Literatur verbreitet und Ketzern die Predigtlizenz erteilt habe, Bestechungsgelder angenommen habe und daß er beabsichtigt hätte, Heinrichs Tochter Maria zu ehelichen, um König von England werden zu können. Cromwell hatte keine Chancen, dem Todesurteil zu entgehen. Am 23.7.1540 wurde er schließlich enthauptet.
Kurz nach Ostern 1540 gab Heinrich zum erstenmal seinen Zweifel über die Gültigkeit seiner Ehe mit Anna laut kund. Zwei Gründe führte er dafür an: erstens hätte seine freiwillige Zustimmung nicht vorgelegen, was sich in seiner Unfähigkeit, Anna beizuwohnen, klar erweise, und zweitens würde ein früherer Ehekontrakt zwischen Anna von Kleve und dem Marquis von Pont-à-Mousson, dem Sohn des Herzogs von Lothringen, bestehen. Cranmer, Erzbischof von Canterbury, und Tunstall, Bischof von Durham, stellten, was den Punkt 2 betraf, Nachforschungen an und kamen zum Ergebnis, daß 1527 und 1538 zwar über eine mögliche Ehe zwischen Anna und Franz, dem ältesten Sohn Antons von Lothringen, verhandelt worden war, daß es dabei aber zu keinem endgültigen Vertragsabschluß gekommen wäre. Zu Punkt 1 wurde Heinrichs Leibarzt, Dr. William Butts († 1545), befragt. Dieser bestätigte, daß die Ehe zwischen dem König und Anna nicht vollzogen worden sei, "da Heinrich während dieser Zeit nächtliche Samenergüsse hatte". Und Cromwell gab im Tower am 30.6.1540 zur Entlastung des Königs noch folgende Gespräche zwischen ihm und dem König kurz nach dessen Hochzeit in folgendem Schreiben bekannt: "Euer Gnaden haben mich gerufen und mir diese Worte oder ähnliche gesagt: »Mylord, wäre es nicht, um der Welt und meinem Königreiche Genüge zu tun, um nichts in der Welt würde ich das tun, was ich heute tue (nämlich Anna von Kleve zu heiraten)« ... Und am Dienstag morgen erschien ich vor Eurer Majestät in Eurem Zimmer und fand Eure Majestät nicht so guter Laune, wie ich Euch zu finden glaubte, und so war ich so kühn, Euer Gnaden zu fragen, wie Euch die Königin gefiele, worauf Euer Gnaden kühl antworteten ..: »Sicherlich, Mylord, wie Ihr vorher bereits wußtet, liebte ich sie nicht sehr, aber nun liebe ich sie noch weniger. Denn« sagten Eure Hoheit, »ich habe ihren Leib und ihre Brüste befühlt, und danach dürfte sie, wie ich urteilen kann, keine Jungfrau sein, und dies hat mich so ins Herz getroffen, als ich sie befühlte, daß ich weder Willen noch Mut hatte, Weiteres zu unternehmen.« Ihr sagtet: »Ich habe sie als ebenso gute Jungfrau gelassen, wie ich sie gefunden habe.« Zwischen Lichtmeß und Fastnacht sagtet Ihr ein- oder zweimal, daß Ihr sie niemals fleischlich erkannt hättet, obwohl Ihr jede Nacht oder doch jede zweite bei ihr gelegen hättet." (in: Uwe Baumann, Heinrich VIII., Reinbek 1991, S. 116).
Dabei war Anna, an deren Jungfräulichkeit Heinrich VIII. zweifelte, so naiv und unschuldig, daß sie tatsächlich glaubte, sie könnte durch die Küsse ihres Mannes schwanger werden. Sie hatte überhaupt keine Ahnung, wie Kinder entstehen. Ihre Mutter hielt es selbst vor der Abreise Annas nicht für ihre Pflicht, sie aufzuklären. Diese Aufgabe übernahmen schließlich Annas eigenen englischen Zofen.
Das Annullierungsverfahren begann Anfang Juli 1540, und am 9.7.1540 erklärte die Konvokation Heinrichs Ehe mit Anna von Kleve von Beginn an für ungültig. Das Parlament bestätigte wenige Tage später dieses Urteil. Anna fügte sich ohne Murren der Entscheidung und wurde dafür von Heinrich reichlich bedacht. So wurden ihr mehrere Herrensitze (z.B. Richmond, Penshurt, Hever und Bletchingly in Surrey) und Ländereien in verschiedenen Grafschaften überschrieben, die z.T. erst kurz zuvor von Thomas Cromwell eingezogen worden waren. Zudem galt sie als die erste Dame Englands nach der Königin und den königlichen Töchtern und erhielt einen großen Haushalt mit zahlreicher Dienerschaft. Die einzige Bedingung, die Anna dafür erfüllen mußte, war, England nie zu verlassen. Als sie nach einer Weile spürte, daß Heinrich sie für eine Spionin ihres Bruders hielt, bot sie ihm großzügig an, daß er alle Briefe vom oder zum Kontinent einsehen dürfte.
Der König besuchte sie bis zu seinem Tode im Jahre 1547 ab und zu als "ihr Bruder". Zwischen den beiden herrschte die äußerste Höflichkeit, und Anna entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einer richtigen Engländerin. Sie erlernte die englische Sprache und nahm sämtliche englischen Angewohnheiten an. Ihr Verhältnis zu Heinrichs Töchtern Maria und Elisabeth war ausgesprochen herzlich. Besonders freundschaftlich verbunden war sie mit ihrer fast gleichaltrigen Stieftochter Maria (Abb. 58), und in Elisabeth (Abb. 59), die oft bei ihr in Richmond zu Gast war, war sie geradezu vernarrt.
Bereits vor der Scheidung, im April 1540, hatte Heinrich seiner neuen großen Liebe, Katharina Howard, Ländereien hingerichteter Verbrecher übertragen. 19 Tage nach der Scheidung von Anna heiratete er sie am 28.7.1540 in Oatsland in aller Heimlichkeit. Am 8.8.1540 stellte er sie seinen Untertanen als neue Königin vor. Was Heinrich jedoch nicht wußte, war die Tatsache, daß Katharina trotz ihrer jungen Jahre eine Frau mit Vergangenheit war. Mit ungefähr 12 Jahren schien sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen gemacht zu haben. Zudem hatte sie mit dem Mann, der ihr die Jungfernschaft nahm, Francis Dereham, im Jahre 1538 einen heimlichen Ehevertrag geschlossen.
Anna fühlte sich derweil als frisch geschiedene Frau sehr wohl. Kein Mann, nicht ihr Ehemann, ihr Vater oder Bruder konnten ihr etwas vorschreiben. Sie durfte und konnte frei über sich verfügen. Fröhlich, lustig und ausgelassen wurde sie von ihren Zeitgenossen nach der Trennung von ihrem Gatten beschrieben. Sie, die als graue Maus gekleidet, in England erschien, fand mit der Zeit großen Gefallen an kostbaren Kleidern und wechselte jeden Tag ihre Garderobe. Und außerdem begann sie, die zu Hause bei ihrer Mutter und ihrem Bruder nie Alkohol angerührt hatte, alkoholische Getränke zu genießen. England war für sie zur zweiten Heimat geworden. Ja, sie liebte das Land und seine Leute und wollte hier sterben. Sehnsucht nach ihrer Familie in Deutschland hatte sie nie. Der französische Botschafter Marillac erzählte seinem Herrn, dem französischen König Franz I., am 3.9.1540: "Madame von Kleve zeigt eine so freudige Miene wie nie zuvor. Sie hat eine sehr große Auswahl an Kleidern und verbringt ihre gesamte Zeit mit sportlichen und erquickenden Spielen." (in: Agnes Strickland, The Lives of the Queens of England, Bd. 3, London 1882, S. 82).
Mit Katharina schien dagegen am königlichen Hof nicht die Freude und Fröhlichkeit eingezogen zu sein. Mit dem häuslichen Frieden war es jedenfalls schon kurz nach der Hochzeit vorbei, da die 15-jährige Katharina mit ihrer 24-jährigen Stieftochter Maria ständig in Streit geriet. Ferner beging die junge Königin schon bald nach der Eheschließung den schweren Fehler, ihren ehemaligen Freund Henry Mannox und ihren ehemaligen Geliebten Francis Dereham zu Mitgliedern ihres Haushaltes zu ernennen. Auch ihr Cousin und ehemaliger Geliebter Thomas Culpeper befand sich als Kammerherr ihres Gemahls in ihrer unmittelbaren Nähe. Mit letzterem ging sie dann 1541 tatsächlich ein Liebesverhältnis ein. Während der König nach seinen üppigen Mahlzeiten zu schlafen pflegte, trieben Katharina und Thomas mit Unterstützung von Lady Jane Rochford, ihrer Hofdame, die während dieser Zeit Wache schob, ihre Liebesspiele. Dabei wurden die beiden immer leichtsinniger, so daß es Katharinas Gegnern nicht schwer fiel, Belastungsmaterial gegen sie zu sammeln. Besonders fatal erwies sich für Katharina folgender Brief, den sie Thomas Culpeper im Sommer 1541 schrieb und den dieser nicht vernichtet hatte:
"Master Culpeper,
ich empfehle mich Euch herzlich und bitte Euch, mir Nachricht zu geben, wie es Euch geht. Ich habe sagen hören, daß Ihr krank wart, und ich habe nichts so sehr gewünscht, als Euch zu sehen. Es wird mir weh ums Herz, wenn ich daran denke, daß ich nicht immer in Eurer Gesellschaft sein kann. Kommt mich besuchen, wenn Lady Rochford hier ist, denn dann kann ich Euch am besten zu Gefallen sein. Ich danke Euch dafür, daß Ihr versprochen habt, gut zu dem Burschen, meinem Diener, zu sein, denn wenn er nicht hier ist, ist niemand da, den ich zu senden wage. Ich bitte Euch, mir ein Pferd für diesen Mann zu geben, denn ich habe viele Umstände, um eines zu bekommen, und darum bitte ich Euch, mir eines durch ihn zu schicken. Und damit verbleibe ich, wie ich Euch schon gesagt habe, und nehme Abschied von Euch in der Hoffnung, Euch bald wiederzusehen. Und ich wünschte, Ihr wäret nun bei mir, damit Ihr sehen könntet, wie viel Mühe ich mir mache, um Euch zu schreiben. Die Eure, so lange das Leben währt, Catherine." (in: Uwe Baumann, ebenda, S. 119-120).
Bereits am 30.10.1541 unterrichtete der Erzbischof von Canterbury, Cranmer, den König über die Verfehlungen Katharinas vor der Heirat. Umgehend wurden daraufhin weitere Nachforschungen angeordnet und verdächtige Personen verhört.
Am 12.11.1541 informierte der Kronrat die englischen Botschafter im Ausland, daß die junge Königin vor ihrer Ehe ein unkeusches Leben geführt hätte, und daß die Ernennung ihrer ehemaligen Geliebten zu Dienern ihres Haushaltes vermuten ließe, daß sie ihre unzüchtige Lebensweise auch während der Ehe mit dem König beibehalten hätte.
Dereham und Culpeper machte man am 1.12.1541 den Prozeß wegen Hochverrats. Beide wurden zum Tode durch Erhängen, Strecken und Vierteilen verurteilt. Das Urteil von Culpeper wandelte Heinrich VIII. in Tod durch Enthaupten um. Dereham jedoch mußte die volle Strafe erleiden, obwohl gar nicht sicher war, ob er mit Katharina während ihrer Ehe Geschlechtsverkehr hatte. Katharina Howard und Lady Rochford wurden ebenfalls durch Parlamentsbeschluß des Hochverrates für schuldig befunden. In der Anklageschrift der Königin hieß es, "daß Katharina, Königin von England, vormals Katharina Howard aus Lambeth in Surrey, ein abscheuliches, niedriges, fleischliches, wollüstiges und lasterhaftes Leben geführt hat, wie eine gemeine Hure mit verschiedenen Personen." (in: Jasper Ridley, Heinrich VIII., Zürich 1990, S. 405). Am 13.2.1542 wurden Katharina und Lady Rochford, die ehemalige Schwägerin von Anne Boleyn, vor dem Tower enthauptet.
Anna machte sich natürlich nach der Hinrichtung von Katharina Howard erneut Hoffnungen, daß der König sie nun doch als Ehefrau nehmen würde. Sehr groß war deshalb ihre Enttäuschung, als eine gewisse Catherine Parr (Abb. 60) Heinrichs Ehefrau Nr. 6 wurde.
Aber auch nach dieser Eheschließung und nach dem Tode Heinrichs VIII. am 28.1.1547 gehörte Anna fest zur Tudorfamilie und fehlte bei keinen feierlichen oder traurigen Anlässen. So erlebte sie auch die Thronbesteigung ihrer Stieftochter Maria am 30.9.1553 mit. Als dritte Dame begleitete sie neben Elisabeth die neue Königin an diesem für sie ereignisreichen Tag. Auch ein Jahr später war sie bei der Hochzeit Marias, die ihr sehr nahestand, und Philipp II. von Spanien anwesend. Die engen Beziehungen gerade zu Maria bewogen schließlich auch ihre Konversion zum Katholizismus.
Im Frühjahr 1557 machte sich dann zum erstenmal ihre schwere Krankheit - wahrscheinlich handelte es sich um Krebs - bemerkbar, an der sie im Alter von 41 Jahren am 16. Juli 1557 sterben sollte. Bis zu ihrer letzten Stunde wurde sie von ihren Dienern und Dienerinnen liebevoll gepflegt. Kurz vor ihrem Tod hatte sie noch ihr Testament abgefaßt, in dem sie niemanden – auch nicht den geringsten Diener oder etwa ihre Wäscherin Elya Turpin – vergaß, und das sie ihrer Stieftochter Maria Tudor mit der zusätzlichen Bitte überreichen ließ, besonders für ihr Dienstpersonal, von dem die meisten seit 1540 bei ihr lebten, zu sorgen.
Am 3.8. ließ Maria Tudor ihre geliebte Stiefmutter und beste Freundin, Anna von Kleve, in der Westminster-Abtei mit großem Aufwand beisetzen. Noch 50 Jahre nach ihrem Tod erinnerte sich Raphael Holinshed, der Verfasser des Werkes "The Chronicles of England, Scotland and Ireland", an diese Frau von lobenswerter Rücksicht, die stets höflich, sanft und eine gute Haushälterin war. Zu ihren Dienern und Dienerinnen wäre sie immer sehr freigebig gewesen, und an ihrem Hofe hätte es niemals Zank und Intrigen gegeben. Ja, sie wäre von ihrem Dienstpersonal in der Tat zärtlich geliebt worden, schwärmte Holinshed von Anna von Kleve.
Wenn Sie mehr Abbildungen von Anna von Kleve und ihrer Familie sehen möchten, schauen Sie sich bitte den Bilderkatalog an.
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- Ausführlichere Biographie in: Maike Vogt-Lüerssen, Die Frauen des Hauses Tudor – Das Schicksal der weiblichen Mitglieder einer englischen Königsdynastie
- Letters of the Queens of England 1100-1547, edited by Anne Crawford. London 1994 (Originalbriefe von Anna von Kleve!)