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Agrippina die Jüngere und ihre Zeit

Geboren im fernen Lande der Ubier

Es war das Jahr 13 n. Chr., als Agrippinas Vater, Germanicus, von dem unumstrittenen Oberhaupt seiner Familie, dem Kaiser Augustus, den Auftrag erhielt, das Oberkommando über die acht Legionen, die in Ober- und Unter-Germanien stationiert waren, zu übernehmen. Seit Marius († 86 v. Chr.), Sulla († 78 v. Chr.) und Gaius Julius Caesar († 44 v. Chr.), drei sowohl politisch als auch militärisch bedeutenden Persönlichkeiten des 1. Jahrhunderts v. Chr., hatte sich gezeigt, wie mächtig und gefährlich sowohl für den Staat als auch für jede Dynastie ehrgeizige Männer werden können, wenn sie über zu viele ihnen völlig ergebene Soldaten verfügen. Augustus, der unter anderem mit Hilfe seiner treuen Armeen selbst erst seine Machtposition ausbauen und festigen konnte, wollte auf keinen Fall das Risiko eingehen, dass irgendein ruhm- und ehrsüchtiger Adliger ihm sein Lebenswerk zerstörte. Deshalb kamen für die Besetzung wichtiger militärischer Posten nur noch Angehörige seiner Familie infrage.

Germanicus (geboren am 24. Mai 15 v. Chr.) war ein Enkel von Augustus’ dritter Gemahlin, Livia Drusilla oder kurz Livia, mit der er seit 51 Jahren verheiratet war. Leider blieb ihre eigene Ehe ohne gemeinsame Kinder. Livia hatte in ihrer ersten Ehe mit Tiberius Claudius Nero († 33 v. Chr.) zwei Söhne, Tiberius und Drusus Maior oder Drusus den Älteren, auf die Welt gebracht. Letzterer war der Vater von Germanicus.

Viele Mitglieder der augusteischen Familie waren mittlerweile gestorben. Das Schicksal alter Leute ist es nun einmal, miterleben zu müssen, wie oft die liebsten Freunde, Kinder und Enkelkinder vor einem selbst abgerufen werden. Auch Augustus hatte diese bittere Erfahrung machen müssen. Sein Neffe Marcus Claudius Marcellus, der einzige Sohn seiner Lieblingsschwester Octavia Minor († 11 v. Chr.), den er, da er selbst nur eine Tochter besaß, zu seinem Nachfolger bestimmt hatte, starb bereits im Jahre 23 v. Chr., und seine beiden Enkelsöhne, Gaius Caesar und Lucius Caesar, die er abgöttisch geliebt hatte, verließen ihn bereits 4 bzw. 2 n. Chr. für immer. Nun blieb dem alten Kaiser nur noch Germanicus, der ihm als Einziger von sämtlichen noch lebenden Familienmitgliedern wirklich Freude bereitete. Und natürlich dessen Gattin, Augustus’ Enkelin Agrippina, die um sie von ihrer Tochter Agrippina zu unterscheiden, fortan mit dem Beinamen „die Ältere“ versehen wird.

Verheiratet hatte der Kaiser die beiden im Charakter so unterschiedlichen Menschen um 1 v. Chr. Germanicus war überall, sei es beim Volk, sei es bei den Soldaten, sehr beliebt. Er galt als leutselig, äußerst charmant, sehr freigebig, gab sich gern schlichtbürgerlich und soll sehr gut ausgesehen haben. Sueton (um 70/75-150 n. Chr.), dem als Kanzleichef unter Hadrian († 138 n. Chr.) – wie bereits erwähnt – sämtliche kaiserlichen Archive offen standen, ließ uns eine exakte Beschreibung zukommen: „Germanicus war ... wie kein anderer mit allen Vorzügen des Körpers und des Geistes ausgestattet. Seine Schönheit und Körperkraft waren unvergleichlich, seine Begabung in griechischer und lateinischer Beredsamkeit, sowie in den Wissenschaften hervorragend, er besaß eine einzigartige Liebenswürdigkeit, ein bewundernswertes nachhaltiges Streben, sich die Gunst der Menschen zu erwerben und ihre Liebe zu gewinnen.“ (in: Sueton: Caligula, 3). Ja, er war so beliebt, „dass er ..., wenn er irgendwo ankam oder aus irgendeinem Ort abreiste, wegen der Masse der zusammenströmenden oder ihn begleitenden Menschen in Lebensgefahr geriet.“ (in: Sueton: Caligula, 4). Nur seine zu mageren Schenkel schienen sein äußerliches Schönheitsbild etwas zu beeinträchtigen, deshalb versuchte er durch häufiges Reiten, diesen Makel zu beheben.

Als begeisterter Soldat bzw. Feldherr war er häufig auf dem Schlachtfeld oder auf dem militärischen Übungsplatz zu finden. Wenn es sich zeitlich bot, hielt er jedoch zuweilen auch Gerichtsreden, schrieb an seinen griechischen Komödien weiter oder übersetzte die Werke des griechischen Dichters Aratos († 245 v. Chr.).

Seine Gattin Agrippina die Ältere dagegen galt als ausgesprochen arrogant, heißblütig, herrschsüchtig, sehr egoistisch, stolz und ehrgeizig, intolerant, cholerisch, aber auch als außergewöhnlich mutig, intelligent und zäh. Und sie liebte ihren Gatten sehr, was bei den in den führenden Schichten praktizierten rein nach politischem und/oder wirtschaftlichem Nutzen arrangierten Eheschließungen nicht als „gang und gäbe“ bezeichnet werden kann.

Zur großen Freude von Augustus erwies Agrippina sich zudem als besonders fruchtbar. Eine Eigenschaft, die der Kaiser nicht hoch genug schätzen konnte. Hatte sich doch in seinem Reich besonders bei seinen wohlhabenden Untertanen eine Heirats- und Zeugungsmüdigkeit eingestellt, die er mit der Einführung des Gesetzes „lex Papia Poppaea“ im Jahre 9 n. Chr. zu beheben hoffte. Denn fortan wurden für Verheiratete und für kinderreiche Ehepaare Belohnungen und Privilegien ausgesetzt und den Junggesellen Strafen angedroht. Seine ledigen Untertanen konnten von nun an keine Erbschaften oder Legate antreten, und auch die kinderlosen Ehepaare erhielten zum Beispiel bei Erbangelegenheiten nur noch die Hälfte des ihnen Zustehenden, die andere Hälfte ging an den Fiskus. Die Erbschaften zwischen kinderlosen Ehegatten waren von der römischen Gesetzgebung sogar noch härter betroffen. Der kinderlose Witwer oder die kinderlose Witwe konnte nur ein Zehntel vom Vermögen des verstorbenen Ehegatten erben, wenn er zwischen 25 - 60 Jahre, sie zwischen 20 - 50 Jahre alt waren. Vätern hingegen, die drei Kinder besaßen, wurden aufgrund des Gesetzes „ius trium liberorum“ besondere steuerliche, rechtliche und erbrechtliche Vorteile zugestanden. Außerdem wurde man in solchen Fällen bei einer Amtsbewerbung oder bei der Besetzung eines Postens in der Provinzialverwaltung bevorzugt behandelt. Von bestimmten höheren Ämtern wie der Prätur und der Verwaltung von Provinzen blieben Kinderlose ausgeschlossen. Mütter von drei oder mehr Kindern wurden zudem beim Tode ihrer Gatten von der sonst üblichen Vormundschaftspflicht freigestellt.

Agrippina die Ältere brachte ihr erstes Kind, den Stammhalter, im Jahre 6 n. Chr. auf die Welt. Er erhielt den Namen Nero Caesar. In den Jahren 7 n. Chr. und 8 n. Chr. gebar sie zwei weitere Söhne – einer von ihnen hieß Tiberius –, von denen jedoch keiner das erste Lebensjahr erreichen sollte. Die Kindersterblichkeit im alten Rom war sehr hoch. Die Rate wird der im Mittelalter geglichen haben, in der jedes zweite Kind bereits im ersten Lebensjahr verstarb. Im Jahre 9 n. Chr. brachte sie ihren Sohn Drusus Caesar auf die Welt.

Im Jahre 11 n. Chr. schenkte sie ihrem Gatten im kaiserlichen Sommerpalast in Tibur (heute: Tivoli) schließlich den Sohn Gaius, einen Knaben „von ganz besonderer Liebenswürdigkeit ... Ein Bild dieses Jungen in der Gestalt des Cupido brachte Livia im Tempel der kapitolinischen Venus als Weihegabe dar, während Augustus eine Kopie davon in seinem Schlafzimmer aufstellte, die er, so oft er den Raum betrat, zu küssen pflegte.“ (in: Sueton: Caligula, 7).

Aber auch dieser Sohn starb bereits, bevor er sein erstes Lebensjahr erreichen konnte. Am 31. August 12 n. Chr. kompensierte Agrippina den schrecklichen Verlust dieses allseits beliebten Kindes durch die Geburt eines weiteren Sohnes, der den Namen des Verstorbenen erhielt. Er wurde in Antium (Italien) geboren, und nicht wie Tacitus behauptete, „im Feldlager“ in Germanien (in: Tacitus: Ann., Erstes Buch, 41). Sueton korrigierte diesen Fehler von Tacitus: „Gaius Casar wurde am einundreißigsten August unter dem Konsulat seines Vaters und des Gaius Fonteius Capito geboren [also im Jahr 12 n. Chr.] … Ich finde in den amtlichen Urkunden, daß er zu Antium geboren ist.“ (in: Sueton: Caligula, 8).

Als Germanicus gemäß des Befehls des Augustus zu Beginn des Jahres 13 n. Chr. nach Germanien aufbrach, blieb Agrippina die Ältere mit ihren Söhnen in Rom zurück. Erst im Jahre 14 n. Chr. folgte sie ihrem Gatten mit ihrem jüngsten Sohn, dem mittlerweile fast zweijährigen Gaius, ins raue Land der Barbaren, in dessen dichten, unwegsamen Wäldern noch Wildkatzen, Wölfe, Bären, Luchse, Eber, das Wisent und das Ur hausten. Die beiden ältesten Söhne, der achtjährige Nero und der fünfjährige Drusus, blieben unter der Obhut ihrer Großmutter, Antonia Minor, der Mutter des Germanicus, in Rom zurück.

Der Abschied von seiner Enkelin und seinem Urenkel muss Augustus sehr schwer gefallen sein. Ein Brief von ihm an Agrippina ist von Sueton bruchstückhaft wiedergegeben worden: „Ich habe gestern mit Talarius und Asellius vereinbart, dass sie den jungen Gaius am 18. Mai, so die Götter wollen, begleiten sollen. Außerdem schicke ich mit ihm aus meiner Dienerschaft einen Arzt, den Germanicus, wie ich ihm bereits geschrieben habe, wenn er will, behalten kann. Lebe wohl meine Agrippina und trage Sorge, dass du gesund zu deinem Germanicus kommst.“ (in: Sueton: Caligula, 8).

Agrippina hatte sich kurz nach Empfang dieses Briefes vermutlich noch im Mai in Begleitung ihres jüngsten Sohnes und natürlich einer großen Schar von Dienern und Dienerinnen im Schutz von sie und den Tross begleitenden Soldaten in Richtung Norden aufgemacht. Das Ziel ihrer Reise war das „Oppidum Ubiorum“, die Stadt der Ubier (Köln), an dessen Rande sich das Feldlager der 1. und der 20. Legion befand und in dem ihr Gatte sein Hauptquartier besaß.

Welchen Weg sie genommen hat, wissen wir leider nicht. Vermutlich wird sie über Augusta Praetoria (Aosta), den Großen St. Bernhard, Octodurum (Martigny), Viviscus (Vevey), Augusta Rauracorum (Basel-Augst) nach Straßburg und von dort über Noviomagnus (Speyer), Borbetomagnus (Worms) und Mogontiacum (Mainz) zu ihrem Gatten angereist sein. Aber ihr Reiseweg könnte auch über den bequemeren Septimerpass geführt haben, der zu ihrer Zeit am besten ausgebaut war und am meisten frequentiert wurde, oder über den Mont Genèvre. Alle drei Alpenübergänge waren mit schmalen Straßen und Meilensteinen versehen und waren von Mai bis September in der Regel schneefrei.

Ausgerüstet mit den für das Reisen notwendigen offiziellen Transportausweisen könnte sie mit Hilfe des schnellen Reisewagens innerhalb von drei oder vier Wochen, je nachdem welchen Pass sie bevorzugt hatte, im Lande der Ubier eingetroffen sein, in dem schon ihr im Jahre 12 v. Chr. verstorbener Vater Marcus Vipsanius Agrippa, der treueste Freund von Augustus, als erfolgreicher Feldherr gewirkt hatte. Denn dieser war bereits im Jahre 38 v. Chr. im Auftrag des Kaisers an den Rhein gelangt, um die stets römerfreundlichen Ubier, die eigentlich auf dem rechten Rheinufer lebten, auf das linke umzusiedeln. Die im Kölner Raume ursprünglich ansässigen Eburonen waren bereits im Jahre 53 v. Chr. größtenteils von Caesars Soldaten aufgerieben worden.

Für Agrippina die Ältere muss das Wiedersehen mit ihrem Gatten über vieles, was die Stadt der Ubier an Unbequemlichkeiten bot, hinweggetröstet haben. Denn mit dem großen Komfort und Luxus, den sie gewohnt war, konnte ihr Mann sie hier nicht verwöhnen. Ohnehin war ein Legionslager nicht der Platz für Frauen. Den gewöhnlichen Soldaten, ja selbst den Legaten, war es strikt verboten, ihre Gattinnen ins Lager mitzubringen. Nur zur Winterszeit war diesen erlaubt, mit ihren Frauen außerhalb der Befestigungen zusammenzutreffen. Die Bedingungen für Eheschließungen wurden zudem so erschwert, dass viele Soldaten auf eine Heirat verzichteten und ihre sexuellen Bedürfnisse in den provisorisch aufgebauten Buden vor den Kasernentoren mit Hilfe der zahlreichen Prostituierten befriedigten.

Auch die Ehefrauen der höheren Offiziere waren – wie bereits erwähnt – im Lager nicht erwünscht, aber die Frauen aus dem Kaiserhaus sahen darüber hinweg. Schon Agrippinas Schwiegermutter, Antonia Minor, hatte ihren Gatten Drusus Maior nach Gallien begleitet, von wo aus dieser gegen den germanischen Stamm der Chatten einen Feldzug unternehmen wollte. Außerdem gehörte Agrippina nicht zu den Frauen, die leicht eingeschüchtert werden konnten. Da glich sie sehr ihrem Vater, Marcus Vipsanius Agrippa, dem ebenfalls Wildheit, Mut und Unnachgiebigkeit nachgesagt worden waren.

Wie alle römischen Lager wies auch das ubische die zwei sich kreuzenden Hauptstraßen auf, von denen rechtwinkelig alle weiteren Straßen abzweigten, an denen sich wiederum die Mannschaftszelte der Soldaten, die Einzelzelte der Offiziere, die Stallungen für die Pferde und für die Maultiere sowie die Werkstätten und das Lazarett befanden. Im Zentrum lag der Versammlungsplatz mit dem Kommandoquartier und dem Fahnenheiligtum, in dem die Feldzeichen aufbewahrt wurden. Auch die Altäre und die Bildnisse und Statuen der verschiedenen von den Soldaten verehrten Götter wurden hier errichtet bzw. aufgestellt. Geschützt wurde das Lager durch einen Graben, einen Erdwall und durch Holzpalisaden. Außerdem war es üblich, dass sich um diese militärischen Befestigungen herum schon bald auch Zivilisten niederließen, die Waren und Dienstleistungen anboten, für die sich die Militärverwaltung nicht für zuständig hielt. So entstanden die sogenannten „canabae“, die Vorstädte, in denen sich auch die Veteranen nach ihrer Entlassung aus dem Heer mit ihren Familien häuslich einrichteten. Germanicus und seine Familie lebten im Lager hingegen vermutlich schon in einer Steinvilla. Außerdem musste man hier bei den Ubiern, die sich bereits wie die Römer kleideten, nicht mehr auf die geliebten Waren aus Rom verzichten. Denn über die sehr gut ausgebauten und gepflasterten Heerstraßen und über den Rhein wurden die für jeden Römer unentbehrlichen Güter wie der Wein oder das Garum, eine in fast keinem römischen Essen fehlende Fischsoße, in einem regen Handel transportiert. Schließlich wies Germanien für diese Fernkaufleute nicht nur undurchdringliche Wälder, trostlose Sümpfe, dichten Nebel, tagelangen Regen und unbändige Herbststürme auf, sondern auch interessante Güter wie das blonde Frauenhaar, die weißen Zähne – zur Herstellung von künstlichen Prothesen verwendet –, die herrlichen Bernsteine, außerdem zuverlässige, treue und starke Sklaven – besonders beliebt als Leibgarde in Rom, auch der Kaiser verfügte über solch eine Garde aus „blonden Löwen“ –, Honig, kostbare Felle und Häute, Mäntel aus friesischer Wolle, Daunen, Pech und Harz, Roggen und Hafer, Rinder und Pferde und die sonst nirgendwo anders zu erstehenden einmaligen Glas- und Töpferwaren der Ubier, die noch Weltruhm erlangen und bis nach Ägypten exportiert werden sollten.

Ja, die mittlerweile zu Wohlstand gelangten Ubier ließen bereits wie die Römer ihre Häuser mit Mosaikfußböden und farbigen Wand- und Deckenmalereien verzieren und verzichteten auch nicht mehr auf ihre eigenen Bade- und Toiletteneinrichtungen. Das einzig wirklich Unangenehme in Germanien waren die langen, kalten Winter, an denen jedoch Agrippina nicht so sehr zu leiden hatte, da sie als Enkelin des Kaisers Augustus in ihrer Villa bereits über eine Fußbodenheizung verfügte.

Ob Agrippina ihre Zeit – immerhin zweieinhalb Jahre – im Lande der Barbaren nutzte, um die Stämme der Germanen und ihre Lebensweise kennenzulernen, ist zu bezweifeln. Das Interesse der Römer an den in ihren Augen barbarischen Völkern hielt sich nämlich sehr in Grenzen. Zudem wurde sie schon bald nach ihrer Ankunft bei ihrem Gatten – wie zu erwarten war – wieder schwanger.

Diese frohe Botschaft wird ihren Großvater Augustus jedoch nicht mehr erreicht haben, denn der Kaiser, der eigentlich schon seit seiner Kindheit als sehr kränklich galt, starb in den Armen seiner Gattin am 19. August 14 n. Chr. in Nola, und zwar in demselben Haus und Gemach wie sein Vater Octavius im Jahre 59 v. Chr.

Durch seinen Tod jedoch begann es, im römischen Reich unruhig zu werden. Wer würde ihm als neuer Kaiser oder „Princeps“ – die vorsichtigere Umschreibung seiner Position, die ihn nur zum Ersten unter den Senatoren deklarierte – folgen? Er selbst hatte seinen Stiefsohn Tiberius, den er im Jahre 4 n. Chr. adoptiert hatte, zu seinem Nachfolger bestimmt. Aber was war mit den anderen Thronprätendenten zum Beispiel dem einzigen noch lebenden Enkel von Augustus und jüngsten Bruder von Agrippina der Älteren, Agrippa Postumus, oder mit dem allseits beliebten Germanicus?

Das Problem „Agrippa Postumus“ wurde gleich nach dem Tode des Kaisers – vermutlich noch in dessen Auftrag – beseitigt. Die wirklichen Gründe für die Hinrichtung des jüngsten Bruders von Agrippina der Älteren werden wir leider nie erfahren. Ob er schwachsinnig oder geisteskrank war, wie einige römische Geschichtsschreiber behaupten, oder ob er eine Verschwörung gegen seinen Großvater angezettelt hatte, wie andere in ihren Werken erwähnen, ist den stark überarbeiteten römischen Quellen nicht mehr mit Sicherheit zu entnehmen. Als offizielle Begründung für seine bereits im Jahre 5 oder 6 n. Chr. erfolgte Verbannung auf die Insel Planasia, in der Nähe von Korsika, die auf ausdrücklichen Befehl von Augustus hin geschah, wurde grobe Unsittlichkeit und bestialisches Verhalten angegeben. Es liegt sehr nahe, dass es sich bei dieser Art von Vergehen in Wirklichkeit stets um Rebellionen und Umsturzversuche gegen Augustus gehandelt hatte.

Und das andere Problem, „Germanicus“, verzichtete auf eine militärische Konfrontation mit dem neuen Kaiser. Schließlich war dieser bereits 4 n. Chr. von Tiberius adoptiert worden und somit neben dem leiblichen Sohn des neuen Kaisers, Drusus II., der zweite mögliche Thronprätendent im Falle des Todes seines Adoptivvaters. Obwohl Tiberius von seinen Verwandten als rechtmäßiger Nachfolger des Augustus betrachtet und respektiert wurde, hörten die Unruhen im römischen Reich nicht auf. Besonders die Soldaten in den Legionslagern in Pannonien (Ungarn und nördliches Kroatien) und in Germanien wollten diese Umbruchzeit nutzen, um ihre Unzufriedenheit bezüglich der Bezahlung, der groben Behandlung der Vorgesetzten ihnen gegenüber und der in ihren Augen zu harten Arbeitsbedingungen laut und deutlich kundzutun. Denn für einen Lohn, der unter dem der Tagelöhner in Rom lag, hatten sie nicht nur in ständigen Kämpfen ihr Leben aufs Spiel zu setzen, sondern mussten noch alle möglichen anfallenden Arbeiten wie Errichten eines Lagers, einer Heerstraße oder einer Brücke erledigen. In manchen Provinzen hatten die Soldaten sogar unter großer Lebensgefahr in den Minen zu arbeiten.

Das gewöhnliche Marschgepäck betrug zudem allein neben den Hauptwaffen, dem schweren Wurfspeer und dem Schwert, 30 kg. Es enthielt Werkzeuge zum Bau von Lagern, Taschen mit Säge, Kette, Riemen, sichelförmigem Messer und Proviant für drei Tage, Spaten und Axt, Töpfe und Pfannen zum Kochen, das Schlafzeug und einen ledernen Schutzschild. Denn ständig musste der Soldat neben seinen Kampfgefechten auch zu Spaten, Säge, Beil und Hacke greifen können. Außerdem waren die gewöhnlichen Soldaten zu diesem harten Leben 20 Jahre lang verpflichtet. Die Soldaten der Hilfskorps hatten sogar 25 Jahre zu dienen. Erst dann erhielten sie als Veteranen bei ehrenvoller Entlassung ein kleines Grundstück oder 3.000 Denare (ungefähr 6.000 Euro). Doch wie viele von ihnen waren dann noch am Leben?

So begannen die 1., die 5., die 20. und die 21. Legion unter dem Legaten Aulus Caecina am Niederrhein und die 2., 13., 14. und 16. Legion unter dem Legaten Gaius Silius am Oberrhein gerade zu dem Zeitpunkt mit ihrer Meuterei, als Germanicus in den gallischen Provinzen, die ihm ebenfalls unterstanden, durch eine Steuerabschätzung in Anspruch genommen war. Sofort eilte er zurück, um seine Frau und seinen kleinen Sohn Gaius vor den mittlerweile auch zur Gewaltanwendung bereiten Soldaten zu schützen. Wie gefährlich die Situation wirklich war, beschreibt Tacitus: „Selbst der Legat [Aulus Caecina] wagte ihnen [den meuternden Soldaten] nicht entgegenzutreten, denn die wahnwitzigen Reden der Überzahl hatten ihm die Festigkeit genommen. Plötzlich stürzten sich die Soldaten wie Rasende mit gezückten Schwertern auf die Zenturionen [ihre direkten Vorgesetzten]; denn diese waren schon von jeher der Gegenstand des Hasses der Soldaten und Anlass von Wutausbrüchen. Sie streckten sie zu Boden und misshandelten sie mit Schlägen, je sechzig einen, um sich der Anzahl der Zenturionen anzugleichen. Dann warfen sie dieselben zerschunden, zerfleischt und zum Teil schon entseelt hinaus vor den Lagerwall oder in den Rhein.“ (in: Tacitus: Annalen, Erstes Buch, 32).

Gegenüber dem im Lager endlich eintreffenden Germanicus wiederholten die aufrührerischen Soldaten sofort ihre Beschwerden: „Als er [Germanicus] auf die Meuterei zu sprechen kam, als er sie fragte, wo ihr soldatischer Gehorsam, wo die gerühmte alte Manneszucht geblieben sei, was sie eigentlich mit ihren Tribunen und Zenturionen gemacht hätten, da entblößten alle ihre Körper und zeigten ihm vorwurfsvoll vernarbte Wunden, die von Geißelhieben herrührten. Durcheinander lärmend beschwerten sie sich über den hohen Preis für Urlaubserteilung [für Urlaubstage musste gezahlt werden!], über die Kärglichkeit des Soldes und die harten Strapazen, wobei sie die Arbeiten am Wall und Graben, das Heranschaffen von Futter, Bau- und Brennholz ausdrücklich hervorhoben, und was sonst noch an Dienstleistungen notwendig war oder als Gegengewicht gegen den Müßiggang des Lagerlebens ausfindig gemacht wurde.
Am ärgsten tobten die Veteranen, die schon dreißig oder mehr Dienstjahre hinter sich hatten, und baten, er möge den Müden aufhelfen und nicht zulassen, dass sie den ewig gleichen Strapazen bis zum Tode ausgesetzt seien; vielmehr möge er solch hartem Militärdienst endlich ein Ende setzen und ihnen Versorgung zubilligen.“
(in: Tacitus: Ann., Erstes Buch, 35).

Da die Einwände der Soldaten z. T. tatsächlich begründet waren und man zudem die Meuterei trotz Strafandrohungen nicht eindämmen konnte, fand Germanicus sich schließlich bereit, im Namen des neuen Kaisers – ohne diesen natürlich wegen der erzwungenen Eile zu konsultieren – ein Schreiben an die Heere aufzusetzen, in dem Entlassung allen denen bewilligt wurde, die ihre regulären 20 Dienstjahre hinter sich hatten, und Überführung in die Reserve denen, die 16 Dienstjahre aufweisen konnten. Letztere sollten zwar noch unter der Fahne bleiben, seien jedoch von allen Dienstleistungen außer von der Abwehr des Feindes entbunden. Außerdem sollte der Sold auf das Doppelte erhöht werden.

Nachdem Germanicus die Soldaten am Niederrhein mit der Verkündigung des Schreibens und der Auszahlung beruhigen konnte, begab er sich zum oberrheinischen Heer, um dieses ebenfalls wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Aber der Frieden währte nur kurz. Denn die bald darauf in dem niederrheinischen Lager eintreffenden Senatoren aus Rom sorgten für erneute Unruhe, da die Soldaten befürchteten, dass diese nur gekommen seien, um ihnen ihre gerade erworbenen Rechte wieder zu nehmen. Erneut brach ein gefährlicher Aufstand aus. Germanicus sandte die Veteranen des niederrheinischen Heeres daraufhin nach Rätien, um diese Provinz vor einem angeblichen Angriff seitens der Sueben zu schützen. Somit waren diese Soldaten erst einmal anderweitig beschäftigt. Den Rest des niederrheinischen Heeres – 12.000 Soldaten, 26 Kohorten der Bundestruppen (= weitere 15.600 Männer unter Waffen) und acht Reitergeschwader – hatte er noch, kurz bevor es sich ins Winterlager begab, Ende September gegen die nichtsahnenden Marser (Gebiet zwischen Lippe und Ruhr) geschickt. Nach dem Motto „wer kämpft, hat keine Zeit, auf dumme Gedanken zu kommen!“

Und die Römer richteten tatsächlich ein schreckliches Blutbad unter den Marsern an, die gerade das Herbstfest ihrer Göttin Tanfana (oder Tamfana) feierten und zu betrunken waren, um auf diesen Überraschungsangriff überhaupt kontern zu können. Alt und Jung, Frauen und Männer wurden von den römischen Soldaten abgeschlachtet. Mit diesem grausamen Anschlag setzte Germanicus jedoch etwas in Gang, das ihn die nächsten zwei Jahre sehr beschäftigen sollte. Denn über dieses Blutbad erzürnt, fanden die sich sonst oft selbst gegenseitig bekämpfenden Germanen wieder zusammen, um gegen ihren nun gemeinsamen Feind, die Römer, vorgehen zu können. Germanicus selbst hatte sich zudem in den Kopf gesetzt, an den Germanen eine der schwersten Niederlagen der Römer im Jahre 9 n. Chr., die verlorene Schlacht im Teutoburger Wald (oder am Rande des Wiehengebirges) unter dem damaligen Oberbefehlshaber P. Quinctilius Varus, in der 20.000 Soldaten ihr Leben verloren hatten, zu rächen und die dabei abhandengekommenen Legionsadler zurückzuholen. Deshalb gönnte er seinen Soldaten auch nur eine kurze Winterpause.

Seine schwangere Gattin und seinen Sohn Gaius hatte er bereits im Oktober bzw. November 14 ins sichere Land der Treverer (Gebiet um die Mosel) geschickt. Durch zeitgenössische Quellen wissen wir, worauf wir im Appendix 1 und im Appendix 2 noch intensiv eingehen werden, dass das Kind, das Agrippina zu dieser Zeit unter ihrem Herzen trug, am 2. Juni 15 geboren wurde. Sie befand sich daher im Oktober bzw. November 14 im zweiten oder dritten Monat ihrer Schwangerschaft. Wie zu erwarten war, hatte Agrippina sich heftig gegen die Entscheidung ihres Gatten gesträubt, sie ins Land der Treverer zu schicken, „und versicherte, dass sie als Enkelin des Augustus in Gefahren sich wohl zu benehmen wisse.“ (in: Tacitus: Ann., Erstes Buch, 40). Letztendlich hatte sie jedoch nachgegeben.

Der Abschied war allen Seiten schwergefallen. Auch den Soldaten, die besonders in den erst zweijährigen Gaius völlig vernarrt waren, der stets in Soldatenuniform und Soldatenstiefelchen – daher sein Spitzname „Caligula“ (von „caliga“ = Soldatenstiefel) – im Lager umherstolziert war. Germanicus war schließlich gegen Ende April 15 bereit, zumindest seinen Sohn ins Lager zurückzuholen, aber Agrippina, die sich zu diesem Zeitpunkt gemäß der Tradition ihrer Zeit und ihres Standes für sechs Wochen zurückzuziehen hatte, um sich auf die Geburt ihres nächsten Kindes vorzubereiten, musste mit ihren Dienerinnen im Land der Treverer verbleiben.

Bereits im Frühjahr 15 n. Chr. machte Germanicus sich mit den acht Legionen in den Kampf gegen die Chatten (im heutigen Hessen) auf, die er ebenfalls ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht und Alter niedermetzeln ließ. Ein anschließender Kampf gegen die Cherusker brachte die hochschwangere Thusnelda, die Gattin des meistgesuchten römischen Gegners, nämlich des Arminius, des Siegers über Varus und dessen Truppen, in seine Hände. Zum ersten Mal tauchten dabei zudem wieder Beutestücke aus der Varus-Schlacht auf.

Im „vicus Ambitarvius“ oder „vicus Ambiatarius“, einem Dorf oder Flecken im Lande der Treverer, brachte Agrippina derweil am 2. Juni ihr siebtes Kind auf die Welt (siehe hierzu: Rebecca Marie Muich: The Worship of Roman Divae: The Julio Claudians to the Antonines, University of Florida 2004, pp. 38-40; und John H. Humphrey: "The Three Daughters of Agrippina Maior", pp. 125-143; in: American Journal of Ancient History 4, 1979, p. 133 und p. 142, Endnoten 50 und 53). Die stolzen Bewohner ließen anlässlich der Geburt einer Urenkelin des ehemaligen Kaisers Augustus mehrere Altäre errichten, die dieses große Ereignis für die Nachwelt festhalten sollten. Es war Agrippinas erste Tochter, die den Namen Julia Drusilla, kurz Drusilla, zum Andenken an ihren Großvater Drusus Maior erhielt, der hier in Germanien im Jahre 9 v. Chr. bei einem Sturz vom Pferd seinen Oberschenkel gebrochen hatte und schließlich daran gestorben war oder, wie Sueton behauptet, einen weniger heldenhaften Tod erlitten hätte, indem er schlicht einer Krankheit erlegen wäre.

Agrippinas Gatte richtete zu dieser Zeit gerade ein weiteres Gemetzel bei den Brukterern, die zwischen der Lippe und der Ems lebten, an, bevor er sich zu dem Ort begab, an dem in der Varus-Niederlage vor sechs Jahren drei römische Legionen vernichtend geschlagen worden waren: „Caecina wurde vorausgesandt, um die verborgenen Waldschluchten abzusuchen, Bohlenwege und Dämme in dem feuchten Sumpflande und auf dem trügerischen Moorboden anzulegen. Dann betraten sie die Stätten düsteren Aussehens und trüben Angedenkens.
Das erste Lager des Varus ließ durch den weiten Umfang und durch die Ausdehnung des Feldherrnplatzes die Arbeit dreier Legionen deutlich erkennen. Weiterhin ersah man an dem halbeingefallenen Wall und dem niedrigen Graben, dass sich hier die schon hart angeschlagenen Reste festgesetzt hatten. Inmitten des Geländes die bleichen Gebeine, bald zerstreut, bald gehäuft, je nachdem die Römer geflohen waren oder Widerstand geleistet hatten. Dabei lagen Bruchstücke von Waffen und Pferdegerippen. Zugleich erblickte man Schädel, die an Baumstämmen befestigt waren. In den nah gelegenen Hainen gewahrte man Altäre, an denen die Barbaren die Tribunen und die Zenturionen erster Klasse hingeschlachtet hatten.“
(in: Tacitus: Ann., Erstes Buch, 61).

Nachdem sämtliche Gebeine der vor sechs Jahren Gefallenen zusammengelesen und unter einem Rasenhügel beigesetzt worden waren und man den Toten die letzte Ehre erwiesen hatte, machte sich Germanicus mit seinen Legionen auf, um Arminius, den cheruskischen Verursacher dieser schmachvollen Niederlage, zu ergreifen. Die schon bald darauf tatsächlich stattfindende kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Germanen und Römern blieb jedoch unentschieden. Allerdings geriet Caecina mit seinen vier niederrheinischen Legionen auf seinem Rückmarsch zum Winterlager im Herbst 15 n. Chr. in eine lebensgefährliche Falle der Germanen und musste hart um sein und seiner Soldaten Überleben kämpfen. Eine zweite schwere „Varus-Niederlage“ war zu befürchten gewesen.

„Unterdessen war an den Rhein das Gerücht gedrungen, das römische Heer sei umgangen und vernichtet worden, die Germanen schon auf dem Anmarsch nach Gallien. Und hätte nicht Agrippina den Abbruch der Rheinbrücke [bei Vetera, dem heutigen Xanten] verhindert, es hätte wahrhaftig welche gegeben, die sich aus lauter Furcht zu dieser Schande hergegeben hätten.
Doch diese hochbedeutende Frau übernahm in jenen Tagen die Dienstobliegenheiten des Feldherrn und verteilte auch unter die
[zurückkehrenden] Soldaten [Caecinas], je nachdem einer abgerissen und verwundet ankam, Kleidungsstücke und Verbandszeug. Gaius Plinius [der Ältere († 79 n. Chr.)], der die Kriege gegen die Germanen beschrieben hat, berichtet, sie habe am Brückenkopf gestanden und den heimkehrenden Legionen Anerkennung und Dank ausgesprochen. … Agrippina sei bei den Heeren schon einflußreicher als die Legaten, als die Feldherren.“ (in: Tacitus: Ann., Erstes Buch, 69).

Agrippinas ausdrücklichem Verbot, die Brücke zu demolieren, verdankten Caecina und seine aus dem Gefecht mit dem Leben davongekommenen Soldaten letztendlich ihre Rettung. Aber einer Frau das Leben zu verdanken, war für diesen niederrheinischen Legaten so erniedrigend, dass er als Konsul im Jahre 21 n. Chr. im Senat den Antrag stellte, dass die Statthalter in Zukunft nicht mehr die Erlaubnis erhalten sollten, ihre Gattinnen mit in die Provinzen zu nehmen, da deren Anwesenheit sich negativ auf die militärischen Aktionen auswirken würde. Dieser Angriff zielte zwar auf die Gemahlin des ehemaligen syrischen Provinzstatthalters Piso, über die später noch Näheres berichtet wird, aber es ist nicht zu leugnen, dass indirekt auch Agrippina die Ältere wegen ihres zu „männlichen“ Auftretens in Germanien gerügt werden sollte.

Durch zeitgenössisches Quellenmaterial ist diese Szene, in der Agrippina die Ältere zum Wohl der Soldaten ihres Gatten eingriff, zeitlich einzuordnen. Sie fand nach dem 22. bis 24. September 15, wohl im Oktober 15, statt, als sich die Truppen von Germanicus ins Winterlager (ab 19. Oktober) begeben wollten (in: Tacitus: Ann. Erstes Buch, 70). Agrippina wird in dieser historischen Quelle nicht als schwanger beschrieben, was sie jedoch gewesen sein muss, wenn die Behauptungen von Theodor Mommsen und Werner Eck stimmen würden, dass Agrippina die Jüngere am 6. November 15 auf die Welt gekommen wäre. Überdies hätte sich Agrippina die Ältere gemäß der Tradition ihrer Zeit und ihres Standes bereits um den 22. bis 24. September wegen der bevorstehenden Geburt ihres nächsten Kindes zurückziehen müssen, was sie nicht getan hatte. Da Agrippina die Ältere zudem am 2. Juni 15 erst ihre Tochter Drusilla geboren hatte, kann aus rein biologischen Gründen im November 15 nicht ein weiteres lebensfähiges Kind zur Welt gebracht worden sein. Die Vermutung von Werner Eck, dass die erste Schwangerschaft, von der Tacitus und Cassius Dio uns in ihren Werken im Oktober bzw. November 14 berichten, in einer Fehl- oder Totgeburt endete, wird von keiner historischen Quelle unterstützt und widerspricht zudem den noch vorhandenen zeitgenössischen Quellen, dass Drusilla im Juni 15 und Agrippina die Jüngere am 6. November 16 das Licht der Welt erblickten.

In dieser gefährlichen Situation im Herbst 15 n. Chr. geriet übrigens auch ein Teil des obergermanischen Heeres unter Germanicus’ Führung durch die den Römern unbekannte Naturerscheinung von Ebbe und Flut in große Lebensgefahr. So war das Jahr 15 n. Chr. – im Ganzen gesehen – für Agrippinas Gatten alles andere als ein erfolgreiches Jahr. Im Gegenteil, der hohe Verlust an Soldaten ohne eigentlichen Landgewinn für das römische Reich beunruhigte Kaiser Tiberius sehr. Um den Ehrgeiz seines Adoptivsohnes zu befriedigen, gewährte er ihm jedoch für die Rückholung immerhin eines der drei Legionsadler des Varus den Ehrentitel „Imperator“, einen Triumph und einen Triumphbogen.

Germanicus gab sich mit dem Erreichten allerdings noch nicht zufrieden, sondern beschloss, die Grenze des römischen Reiches wie im Jahre 12 v. Chr. statt an den Rhein wieder an die Elbe zu verlegen. Denn erst dadurch konnten seiner Meinung nach die demütigenden Spuren der Varus-Niederlage für immer behoben werden. Und wie sein Vater Drusus Maior wollte er in dem Raum zwischen Nordsee und Main und Rhein und Elbe alle germanischen Stämme bezwingen und über sie die römische Herrschaft errichten. Um sein hohes militärisches Ziel zu erreichen, machte er sich deshalb bereits im Frühjahr 16 n. Chr. mit seinen acht Legionen erneut auf den Weg ins Feindesland. Seine schon wieder schwangere Frau und seine beiden Kinder, Caligula und Drusilla, ließ er im Lager der ubischen Stadt zurück.

Germanicus’ militärisches Vorbild in diesem Unternehmen war sein Vater, der bei seinen Kämpfen in Germanien auf die römischen Schiffe zurückgegriffen hatte, mit deren Hilfe er weitaus schneller und gefahrloser zu den verschiedenen Kampfplätzen gelangen konnte. Laut Tacitus sollen Germanicus’ Gedanken deshalb folgende gewesen sein: „Besiegt würden die Germanen erfahrungsgemäß in regelrechter Schlacht auf offenem Gelände; begünstigt würden sie durch Wälder und Sümpfe, durch die Kürze des Sommers und den frühen Beginn des Winters. Seine Soldaten hätten nicht sowohl durch Verwundungen zu leiden als vielmehr durch die weiten Märsche und den Verlust an Waffen. Gallien sei durch die Pferdelieferungen schon erschöpft. Der langgezogene Tross lade zu Anschlägen aus dem Hinterhalt ein und erschwere die Verteidigung. Schlage man jedoch den Seeweg ein, werde die Festsetzung im Lande mühelos und vom Feinde unbemerkt erfolgen. Zugleich könne der Krieg frühzeitiger begonnen, der Proviant zusammen mit den Legionen mitgeführt werden. Reiter wie Pferde würden durch die Flussmündungen und -läufe hintransportiert werden und mit noch frischen Kräften inmitten Germaniens erscheinen.“ (in: Tacitus: Ann., Zweites Buch, 5).

Während die für dieses Unternehmen notwendigen Schiffe noch in aller Eile erbaut werden mussten, erteilte Germanicus dem Legaten Gaius Silius den Befehl, mit einer leichtbewaffneten Abteilung einen Einfall ins Chattenland zu machen. Er selbst begab sich mit sechs Legionen an die Lippe.

„Aber Silius konnte wegen der plötzlichen Regengüsse nicht mehr tun, als in aller Eile einige Beute zu machen und Gattin wie Tochter des Chattenfürsten Arpus zu rauben. Auch dem Germanicus boten die Belagerer [des Kastells Aliso an der Lippe] keine Gelegenheit zum Kampfe, da sie sich schon auf die bloße Kunde von seiner Ankunft davongemacht hatten. Zuvor aber hatten sie den Grabhügel, der jüngst den Legionen des Varus zu Ehren aufgeführt worden war, zerstört, ebenso einen alten, dem Drusus zu Ehren errichteten Altar.“ (in: Tacitus: Ann., Zweites Buch, 7).

Bevor schließlich die erhoffte große Auseinandersetzung mit den Germanen beginnen konnte, fielen noch die Angrivarier von den Römern ab. Immer häufiger wechselten auch andere Germanenstämme, die bisher als Auxiliarsoldaten unter der römischen Fahne gestanden hatten, das Lager und halfen ihren Stammesgenossen beim Kampf gegen die Römer. Die politische wie militärische Situation in Germanien spitzte sich zu. Schließlich kam es zu zwei großen, sehr blutigen Schlachten.

Laut Tacitus verloren dabei angeblich nur die Germanen viele ihrer tapferen Kämpfer. Die erste Schlacht jedenfalls, die etwa 3 km östlich der heutigen Porta Westfalica in einer Ebene, die den Namen Idistavisto trug, ausgefochten wurde, endete laut seinen Angaben mit dem vollkommenen Sieg der Römer über die Germanen. Die zweite Schlacht, die am Angrivarierwall zwischen Leese und dem Sumpfbereich des Steinhuder Meeres stattgefunden hatte, blieb angeblich unentschieden. Da der Sommer nach diesen beiden Kämpfen mittlerweile schon weit vorgerückt war, schickte Germanicus schließlich einige seiner Legionen auf dem Landwege in ihre Winterquartiere zurück. Die Mehrzahl der Soldaten sollten mit Hilfe der Flotte zurückgeführt werden. Aber zum großen Unglück der Besatzung brach auf der Nordsee ein fürchterlicher Sturm aus, der die Schiffe weit ins offene Meer verschlug.

„Pferde, Zugtiere, das Marschgepäck, ja sogar Waffen wurden über Bord geworfen, da durch die leck gewordenen Bordwände Wasser eindrang und von obenher die Wogen sich überschlugen ... Ein Teil der Schiffe wurde von den Wogen verschlungen; die meisten strandeten an Inseln, die weiter entfernt lagen. Die Bemannung wurde, da es dort menschliche Ansiedlungen nicht gibt, durch Hunger aufgerieben mit Ausnahme weniger, die von ebenfalls dort ans Land gespülten Pferdekadavern ihr Leben hatten fristen können.
Am Gestade der Chauken
[niedersächsische Küste] landete als einziges sämtlicher Schiffe nur das des Germanicus. Dieser irrte all die folgenden Tage und Nächte [nach seiner Landung] an den Klippen und Landzungen umher, dabei laut sich selbst die Schuld an dem furchtbaren Unglück beimessend. Nur mit Mühe konnten ihn seine Freunde davon abhalten, gleichfalls den Tod im Meere zu suchen.“ (in: Tacitus: Ann., Zweites Buch, 23 und 24).

Schließlich fasste Germanicus wieder Mut und ließ die doch noch an der Küste auftauchenden, z. T. schwerbeschädigten Schiffe in aller Eile wieder „instand setzen und schickte sie aus, um die Inseln nach Gestrandeten abzusuchen; dank dieser Maßnahme konnten sehr viele von ihnen wieder zusammengebracht werden. Viele kauften die jüngst von uns unterworfenen Angrivarier von den weiter im Innern wohnenden Stämmen los und gaben sie uns zurück. Manche waren nach Britannien verschlagen worden und wurden von den betreffenden Fürsten wieder heimgesandt.“ (in Tacitus: Ann., Zweites Buch, 24).

Aber anstatt sich nun endlich – wie geplant – ins Winterlager zu begeben, kam es noch zu Kämpfen mit den Chatten, die Gaius Silius mit 30.000 Mann Fußvolk und 3.000 Reitern auszufechten hatte. Germanicus selbst begab sich mit der Hauptmacht der Legionen ins Land der Marser, wo er nach einem kurzen Kampf zu seinem großen Glück den mittlerweile zweiten Adler einer Legion des Varus heimführen konnte. Jetzt fehlte nur noch ein Legionsadler, und die Schmach der Varus-Niederlage war für immer getilgt, und die römische Waffenehre wiederhergestellt.

Jetzt endlich führte Germanicus seine Legionen in die langersehnten Winterquartiere. Auf ihn selbst warteten im ubischen Lager seine beiden Kinder Caligula und Drusilla und seine bereits hochschwangere Gattin, die schließlich laut den Arvaltafeln des Jahres 57 und 58 n. Chr. und der Fasti Antiates des Jahres 16 n. Chr. am 6. November 16 n. Chr. von einer weiteren Tochter, nämlich Agrippina der Jüngeren, mit Hilfe der Hebamme und ihren üblichen drei Helferinnen auf dem für sie bereitgestellten Geburtsstuhl entbunden wurde (zu dem Geburtstermin von Agrippina der Jüngeren am 6. November 16 n. Chr. siehe: Victor Ehrenberg and A. H. M. Jones: Documents illustrating the reigns of Augustus and Tiberius, Oxford 1955, p. 54).

Agrippina die Jüngere, das mittlerweile achte Kind von Agrippina der Älteren, wurde, wie aufgrund ihrer Familiensituation zu erwarten war, von ihrem Vater als seine Tochter angenommen und hatte damit das Recht erhalten, am Leben zu bleiben. Denn der „pater familias“ als Oberhaupt der Familie – hier in diesem Falle Tiberius – oder bei dessen Abwesenheit sein Stellvertreter – nämlich Germanicus – konnte sich in seiner unumschränkten Macht gegenüber seinen Familienangehörigen auch weigern, das Kind am Leben zu lassen. Kindestötungen oder -aussetzungen besonders von Mädchen waren in Rom in der Unter- und Mittelschicht noch gang und gäbe. Obwohl im 1. und 2. Jahrhundert einige Versuche unternommen wurden, Eltern dafür zu bezahlen, dass sie ihre Kinder am Leben ließen, damit die abnehmende römische Bevölkerung wieder zunähme, galt der Kindesmord sowohl in Griechenland als auch in Rom bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. weder vor dem Gesetz noch in der öffentlichen Meinung als etwas Unrechtes.

Ältere Autoren wie der Philosoph Aristippos († 360 v. Chr.) bejahten ganz offen den Kindesmord und meinten, „dass ein Mann mit seinen Kindern tun könne, was er wolle, denn ‚werfen wir nicht auch unsere Spucke, unsere Läuse und dergleichen unnütze Dinge von uns, obgleich sie von uns selbst erzeugt worden sind‘“. (in: Wolfgang Gubalke: Die Hebammen im Wandel der Zeiten – Ein Beitrag zur Geschichte des Hebammenwesens, Hannover 1985 (2. Auflage), S. 47-48). Gebrechliche, verkrüppelte und behinderte Kinder auszusetzen, empfand man auch zur Zeit von Agrippina der Jüngeren geradezu noch als Pflicht. So äußerte sich ihr Zeitgenosse, Seneca der Jüngere († 65 n. Chr.), folgendermaßen über die Kindestötung: „Tolle Hunde bringen wir um; einen wilden und unbändigen Ochsen hauen wir nieder, und an krankhaftes Vieh, damit es die Herde nicht anstecke, legen wir das Messer, ungestalte Geburten schaffen wir aus der Welt, auch Kinder, wenn sie gebrechlich und missgestaltet zur Welt kommen, ersäufen wir. Es ist nicht Zorn, sondern Vernunft, das Unbrauchbare von dem Gesunden abzusondern.“ (in: Wolfgang Gubalke, ebenda, S. 48).

Und das in Rom gültige Zwölftafelgesetz forderte sogar die Tötung jeder Missgeburt, denn sie würde der Gemeinde angeblich Unglück bringen. Nach ihrer Beseitigung musste unbedingt auch noch eine öffentliche Entsühnung vorgenommen werden. Zudem wurde die Kindestötung oder -aussetzung als legitimes Mittel der Familienplanung benutzt, falls die verwendeten Empfängnisverhütungsmittel versagt hatten.

Das Aussetzen von Mädchen scheint auch noch im christlichen Abendland wenig Anstoß erregt zu haben, da das weibliche Geschlecht ja laut Aristoteles nur aus einem defekten männlichen Samen entstehen konnte.

Agrippina die Jüngere blieb am Leben, obwohl auch in ihrer Familie schon einem Kind das Lebensrecht entzogen worden war. Die ältere Schwester von Agrippina der Älteren, Julia die Jüngere, die seit 8 n. Chr. auf der Insel Trimerus (heute: Tremiti) im Exil lebte, da ihr von ihrem Großvater Augustus der Vorwurf des Ehebruches gemacht worden war – anscheinend handelte es sich auch hierbei in Wirklichkeit um einen misslungenen Putsch gegen den Kaiser –, gebar um 8 oder 9 n. Chr. ein Kind, das auf Befehl des Kaisers Augustus nicht am Leben bleiben durfte.

Unsere Agrippina jedoch wurde gleich nach der Geburt einer Amme übergeben, die wohl wie in den meisten Fällen der griechischen Sklavenschicht entstammte, denn man glaubte von diesen Griechinnen, dass nur sie die Kinder mit „Milch und Kultur“ säugen könnten. Das Stillen der eigenen Kinder war bei den Frauen in Rom nicht nur in den gehobenen Schichten verpönt. Man war felsenfest der Meinung, dass das Säugen die Schönheit ruinieren würde. Selbst der berühmte Arzt Soranus behauptete, dass das Stillen die Frauen schwäche und früher altern lasse. Leider ist uns der Name von Agrippinas Amme nicht überliefert worden. Bei einigen Kaisern dagegen erfahren wir ihre Namen, so werden bei Nero († 68 n. Chr.) seine Ammen Egloge und Alexandria und bei Domitian († 98 n. Chr.) seine Amme Phyllis erwähnt.

Die Ammen spielten im Leben der römischen Kinder eine bedeutende Rolle, denn sie blieben auch nach der Stillzeit als Kinderfrauen bzw. Aufseherinnen bei ihren Schützlingen. Oft waren sie die Einzigen, die bis zuletzt bei „ihren Kindern“ ausharrten und sie auch dann nicht im Stich ließen, wenn das Schicksal es nicht mehr gut mit diesen meinte. So hatte Nero es seinen Ammen Egloge und Alexandria neben seiner Mätresse Acte zu verdanken, dass seine Gebeine schließlich ihre letzte Ruhestätte in der Familiengrabstätte der Domitier fanden. Und auch Domitians Amme Phyllis sorgte dafür, dass seine Asche trotz des Verbotes des Senates letztendlich bei seinen Vorfahren ruhen konnte. Agrippina die Jüngere sollte dieses Glück später nicht haben. Vielleicht war ihre Amme bereits vor ihr gestorben.

Am achten oder neunten Tag, je nach dem Geschlecht des Kindes, bekam das Neugeborene seinen Namen. Agrippina erhielt als Mädchen am achten Tag nach der Geburt an diesem „Lustral- oder Reinigungstag“ nach einer für sie stattfindenden Opferzeremonie, bei der ihr Vater ebenfalls anwesend war, den Namen Julia Agrippina. Wir werden sie in Zukunft „Agrippina die Jüngere“ nennen.

Zur Namensgebung muss zudem noch einiges erklärt werden. Ein frei geborener männlicher Römer hatte einen Vornamen, einen Familien- bzw. Geschlechternamen und eventuell noch einen Bei- oder Spitznamen, der sich als Zusatzbezeichnung eingebürgert hatte und der eventuell einem Vorfahren wegen zum Beispiel charakteristischer Körpermerkmale hinzugefügt worden war wie zum Beispiel bei den Tulliern der Name „Cicero“ (Kichererbse), weil einer der Ahnen des Marcus Tullius Cicero „an der Nasenspitze eine flache Einkerbung wie die Einziehung einer Erbse“ (in: Plutarch: Cicero 1) besaß. Heute wird in den Geschichtsbüchern bei den Römern häufig nur noch der Beiname wie „Cicero“, „Caesar“, „Augustus“ oder „Germanicus“ verwendet.

Die römischen Frauen hingegen erhielten keinen eigenen Vornamen. Sie führten nur den Geschlechternamen. Wer aus der Familie der Octavier stammte, wurde Octavia genannt, wer zu den Claudiern gehörte, erhielt den Namen Claudia. Die Frauen aus dem Geschlecht der Julier hießen Julia, die aus dem Geschlecht der Cornelier Cornelia, der Tullier Tullia etc.

Kompliziert wurde es, wenn mehrere Mädchen geboren und aufgezogen wurden. Bei zwei Töchtern bot sich dabei die Möglichkeit, die ältere mit dem Zusatz „Maior“ (die Größere, die Ältere) und die jüngere mit dem Zusatz „Minor“ (die Kleinere, die Jüngere) zu versehen, zum Beispiel Antonia Maior und Antonia Minor. Sollten jedoch noch mehr Töchter das Lebensrecht erhalten haben, wurden sie mit Zahlen versehen wie zum Beispiel Claudia Prima (die erste Claudia), Claudia Secunda (die zweite Claudia), Claudia Tertia, Claudia Quarta, Claudia Quinta etc. Schon zur Zeit von Agrippina der Älteren wurde es jedoch allmählich Brauch, auch den Mädchen einen Doppelnamen zu geben, der sich aus dem Geschlechternamen und einem Beinamen zusammensetzte.

Agrippina die Jüngere, die zwar keine Schwester, dafür aber eine Mutter gleichen Namens besaß, musste sich natürlich ebenfalls mit dem Zusatz „Minor“ zufriedengeben. Sie erhielt wie bereits ihre ältere Schwester zwei Namen: „Julia“ nach dem Geschlechternamen ihres Vaters, der seit seiner Adoption im Jahre 4 n. Chr. zum Geschlechte der Julier gehörte, und „Agrippina“ nach dem Beinamen ihres Großvaters mütterlicherseits, Marcus Vipsanius Agrippa. Dessen Geschlechtername blieb nur noch bei ihrer Mutter, Agrippina der Älteren, erhalten, die eigentlich mit vollem Namen „Vipsania Agrippina“ hieß, die jedoch wie ihre Tochter in die Geschichte mit ihrem Bei- und Rufnamen „Agrippina“ eingehen sollte.

Vielleicht hatten die Eltern von Agrippina der Jüngeren bewusst darauf verzichtet, den Rufnamen ihrer Tochter „Julia“ werden zu lassen, obwohl dadurch sehr deutlich ihre Abstammung von den berühmten Juliern (Gaius Julius Caesar und Augustus) zum Ausdruck gebracht hätte werden können, die von sich selbst immerhin behaupteten, dass ihr Geschlecht sich von der Göttin Venus herleiten lasse, deren Sohn Aeneas in Italien den Stammvater ihres Geschlechtes, Jullus, gezeugt habe.

Der Name „Julia“ war andererseits durch Julia die Ältere († 14 n. Chr.) und Julia die Jüngere († 28 n. Chr.), der Mutter und der Schwester von Agrippina der Älteren, alles andere als glückverheißend, denn beiden Frauen wurden sittliche Verderbnis und Ehebruch nachgesagt, weswegen sie von Augustus zu lebenslangem Exil verurteilt worden waren. Mit Sicherheit handelte es sich hierbei wieder um politische Vergehen zum Beispiel Umsturzversuche und Verschwörungen und nicht um „sittliche Verbrechen“. Agrippina die Ältere dagegen stand selbst bei römischen Autoren wie Tacitus in hohem Ansehen, obwohl Letzterer im Allgemeinen auf Frauen, besonders wenn sie nicht an ihrem Herd und in ihren Häusern blieben, sondern sich männliche Rechte wie politische und/oder militärische Mitsprache anmaßten, nicht gut zu sprechen war. Noch bevor der Monat November im Jahre 16 n. Chr. zu Ende ging, konnte jedenfalls jeder Römer und jede Römerin dank des gut ausgebauten kaiserlichen Kurierdienstes in dem amtlichen Nachrichtenblatt „Acta Diurna“, das von Gaius Julius Caesar im Jahre 59 v. Chr. gegründet worden war und das seit dieser Zeit regelmäßig jeden Tag erschien, nachlesen, dass Germanicus’ Familie sich nun um eine weitere Tochter vergrößert hätte, denn neben wesentlichen Senatsbeschlüssen und Magistratsverordnungen enthielt diese Zeitung (aus Papyrus) sowohl Berichte über Prozesse und laufende Bauvorhaben als auch die neuesten Informationen aus der Gesellschaft sowie Klatsch und Geburtsanzeigen vornehmer Familien.

Und die Nachrichten kamen aus dem gesamten römischen Reich. Privatpersonen konnten ihre Briefe zwar nur über Sklaven zustellen lassen oder sie Freunden oder Händlern mitgeben, die zufällig zu dem Bestimmungsort reisten, aber für die im Dienste des Kaisers oder des Staates aufgegebenen Briefe standen Postkuriere zur Verfügung, für die es im Durchschnitt etwa alle 37 km „mutationes“, „Umspann-Stationen“, gab, in denen sie nicht nur schlafen, sondern die Sendungen auch an ausgeruhtes Personal weiterreichen konnten. Ebenso wurden hier die von der beschwerlichen Reise erschöpften Pferde der leichten und der schweren Postwagen durch frische Tiere ersetzt, damit die Fahrt ungehindert und schnell weitergehen konnte.

Das oben erwähnte Nachrichtenblatt mit der Verkündigung von Agrippinas Geburt ist leider nicht erhalten geblieben. Trotz der hervorragenden Arbeiten von John H. Humphrey, der mit logischen Argumenten und zusätzlichen neuen Quellenangaben die Geburt der Drusilla in das Jahr 15 n. Chr. und die der Agrippina in das Jahr 16 n. Chr. legte, von Victor Ehrenberg und Arnold Hugh Martin Jones, die zeitgenössisches Quellenmaterial gefunden hatten, das die Geburt von Agrippina der Jüngeren am 6. November 16 n. Chr. bestätigte, und von Rebecca Marie Muich, die eine historische Quelle fand, die den Juni als den Geburtsmonat von Drusilla nannte, wird bei den meisten Historikern immer noch Mommsens Reihenfolge – erst Agrippina, dann Drusilla – bevorzugt, wobei diese dann in Kauf nehmen müssen, dass die Schwangerschaft der Agrippina der Älteren im Jahre 14 in diesem Falle mit einer Fehl- oder Totgeburt endete, wofür sie jedoch, wie bereits erwähnt, nicht das geringste Quellenmaterial besitzen. Tacitus hätte sich diese Situation jedenfalls nicht entgehen lassen, indem er – sowieso zur Tragik neigend – in schwarzen Tönen ausgemalt hätte, wie Agrippina die Ältere wegen der meuternden Soldaten schließlich eine Fehlgeburt erlitten hätte. Zudem muss noch einmal betont werden, dass in den zeitgenössischen Quellen Agrippina die Ältere im Oktober 15 nicht als schwanger beschrieben wird.

Germanicus’ jüngstes Familienmitglied, Agrippina die Jüngere, verbrachte nur wenige Monate in der Stadt der Ubier, denn spätestens im April 17 n. Chr. hieß es, Abschied nehmen. Kaiser Tiberius ordnete nämlich an, dass Germanicus’ Anwesenheit dringend im Osten erforderlich sei, denn dort gab es seit einem Jahr in Armenien und Kappadokien wegen Thronstreitigkeiten große Unruhen. Dies war natürlich nicht der einzige Grund, warum Tiberius Germanicus aus Germanien entfernen wollte. Schließlich hätte er auch seinen eigenen Sohn Drusus Minor mit dieser Mission beauftragen können. Nein, der wahre Grund lag eher in dem Chaos, das Germanicus seit 14 n. Chr. in Germanien angerichtet hatte. Selbst Tacitus, der Germanicus nur in den höchsten Tönen lobt, äußert manchmal einige sehr nachdenklich machende Sätze, so zum Beispiel bei der Beschreibung des Jahres 15 n. Chr.: „Indes wetteiferten die gallischen und spanischen Provinzen ebenso wie in Italien, um die Verluste des Heeres zu ersetzen ...“ (in: Tacitus: Ann., Erstes Buch, 71), und hinsichtlich des Jahres 16 n. Chr. liest man: „Gallien sei durch die Pferdelieferungen schon erschöpft.“ (in: Tacitus: Ann., Zweites Buch, 5). Germanicus war jedoch nicht bereit, nach Rom aufzubrechen, wie die „wiederholten Briefe“ des Tiberius gegen Ende des Jahres 16 und zu Beginn des Jahres 17 zeigen (in: Tacitus: Ann., Zweites Buch, 26), und versuchte, zumindest noch ein Jahr in Germanien bleiben zu können. Er wollte unbedingt noch den dritten Legionsadler zurückgewinnen.

Anscheinend kostete das Vorgehen des Germanicus in Germanien vielen Soldaten und Pferden das Leben. Zudem war immer noch kein sichtbarer Erfolg zu sehen. Völlig besiegt waren die Germanen bei weitem noch nicht. Und Arminius war immer noch am Leben. Die Grenze des römischen Reiches bis zur Elbe zu ziehen, war militärisch und finanziell gesehen unmöglich. So viele freie Streitkräfte standen einfach nicht zur Verfügung. Schon jetzt umfasste die römische Reichsgrenze circa 16.000 km, die stets überwacht werden mussten. Insbesondere die römische Ostgrenze gegenüber Armenien, dem Partherreich und Arabien erforderte alle noch verfügbaren Streitkräfte. Das Land zwischen dem Rhein und der Elbe unter Kontrolle zu halten, forderte zudem wegen der Unwegsamkeit des Geländes, den dichten Wäldern, den großen Sümpfen, der völlig fehlenden Infrastruktur – es gab zum Beispiel keine ausgebauten Verkehrswege, die die Mobilität der Armee erhöht hätten – und auch wegen der hohen Kampfbereitschaft der Germanen ein großes Potenzial an neuen Soldaten. Aber schon jetzt mangelte es überall an diesen. Die Stützpunkte im germanischen Gebiet östlich des Niederrheins wurden deshalb sofort nach Germanicus’ Abreise wieder aufgegeben. Der Rhein sollte wieder die Sicherheitslinie für das römische Reich werden. Germanien östlich des Rheines und nördlich der Donau war für Rom einfach nicht attraktiv genug, um es um jeden Preis dem Imperium einzuverleiben.

Das Einzige, was Germanicus tatsächlich erreicht hatte, war, dass immer mehr germanische Stämme ihre Feindseligkeiten untereinander eingestellt und sich gegen die Römer verbündet hatten. In Germanien, das 13 n. Chr. einen relativ friedlichen Schauplatz dargestellt hatte, kochte und brodelte es im Jahre 17 n. Chr. an allen Ecken. Tiberius, der selbst unzählige Kriege gegen die Germanen geführt hatte, war sowieso der Meinung, dass nur eines die Germanen wirklich besiegen konnte: ihre ewige Zwietracht untereinander.

Wichtig für den späteren Werdegang von Agrippina der Jüngeren ist jedoch die Tatsache, dass ihr Vater trotz dieses hohen Menschenverlustes, den er aus reinen Prestigegründen in Germanien verursacht hatte, sowohl vom gewöhnlichen Volk als auch von den Soldaten – sei es wegen seiner bekannten Freigebigkeit, seiner Liebenswürdigkeit, seines angeblich großen Erfolges bei der Besiegung der Germanen oder der Revanche für die erlittene Schmach in der Varus-Schlacht – sehr verehrt und geliebt wurde. Uns wäre jedoch nichts von dieser Begeisterung und Liebe für den Helden Germanicus überliefert worden, wenn nicht auch der Senatorenstand ein positives Bild von ihm gehabt hätte. Denn die reichen adligen Senatoren, die über das Geld und über die Zeit verfügten, der Schriftstellerei und Geschichtsschreiberei nachzugehen, bestimmen sehr nachhaltig unser Bild von damals. Vor ihnen und ihren Schriften müssen wir uns stets in Acht nehmen. Auf keinen Fall dürfen wir ihnen uneingeschränkt glauben. Denn sie besaßen auch in der Kaiserzeit noch immer die Macht, anzuordnen, dass nicht konforme Schriften zu vernichten seien und Werke, die ihrer Meinung nach staatsfeindliche Gesinnung zeigten, weder kopiert noch verbreitet werden dürften.

Tacitus († 120 n. Chr.) zum Beispiel, der als Konsul des Jahres 97 n. Chr. und als Prokonsul der Provinz Asia im Jahr 112/113 n. Chr. zu diesem wohlhabenden Kreis der Senatoren gehörte und der überdies schon zu seinen Lebzeiten den Ruf eines rhetorisch sehr geschulten Historikers aufwies, machte Germanicus in seinen Büchern „Annales“ zum unwiderstehlichen, liebenswürdigen, tapferen, ehrbewussten und schönen Helden. Der Grund für diese Verherrlichung lag in dem Glauben der Senatoren gegen Ende des ersten Jahrhunderts v. Chr., dass Drusus Maior, der Vater von Germanicus, vorgehabt hätte, nach dem Tode des Augustus wieder die Republik einzuführen, das heißt, die gemeinsame Herrschaft der Senatoren. Hierdurch sollte die Alleinherrschaft von Augustus und seiner Familie für immer beendet werden, mit der sich die Senatoren nie abfinden konnten. Bisher hatten ihre eigenen Erhebungen, Umsturzversuche und Verschwörungen nämlich nichts bewirken können. Nach dem verfrühten Tode des Drusus Maior im Jahre 9 v. Chr. erhofften die Senatoren nun, Germanicus würde die Republik, sobald er an die Macht käme, wieder zum Leben erwecken. Agrippina die Jüngere sollte später wie ihre Geschwister zu ihren Lebzeiten von dieser guten Gesinnung der Senatoren gegenüber ihrem Vater profitieren. Aber noch befinden wir uns im Jahr 17 n. Chr. Übrigens brach Germanicus mit Sicherheit nicht im Oktober 16 n. Chr. von Köln auf, wie der Althistoriker Werner Eck behauptet. Diese Behauptung wird nicht nur durch keine zeitgenössische Quelle unterstützt, sondern widerspricht der Tradition und den Sitten der Zeit des Germanicus und ist zudem als völlig unlogisch zu bezeichnen. Wäre Germanicus nämlich in der Tat im Oktober 16 von Köln aufgebrochen, dann hätte sein Triumphzug in Rom noch im Dezember 16 stattgefunden. Dieser wurde jedoch erst am 26. Mai 17 gefeiert, also erst an diesem Tag durfte Germanicus mit seinen Soldaten, seinen Gefangenen, den mitgebrachten Tieren aus Germanien und der Beute Rom betreten. Wo soll Germanicus sich mit seinen Leuten, den Gefangenen und den Tieren in der Zwischenzeit ‒ es handelt sich schließlich um ganze sieben Monate ‒ niedergelassen haben? In der Umgebung von Rom traf er nämlich erst kurz vor seinem Triumphzug Ende Mai 17 ein. Die historischen Quellen berichten nicht von einem Winterlager des Germanicus in Oberitalien, das zudem erst noch hätte errichtet werden müssen. Allein die Nahrungsmittelzufuhr hätte zu dieser Jahreszeit ein riesiges Problem dargestellt. Und warum sollte Germanicus dies tun, wo er doch ein etabliertes Winterlager in Köln besaß?


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