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Die Aufzeichnungen der Marquise de Rohan-Preuilly − Das Leben einer Hofdame der französischen Königin Katharina de’ Medici

Buch Cover 'Die Aufzeichnungen der Marquise de Rohan-Preuilly: Hofdame der französischen Königin Katharina de’ Medici. Historischer Roman'

Maike Vogt-Lüerssen

Die Aufzeichnungen der Marquise de Rohan-Preuilly – Das Leben einer Hofdame der französischen Königin Katharina de’ Medici. Historischer Roman

als E-Book bei amazon.de erhältlich, 218 Seiten, Independently published 2016, € 9,40

und

als Buch bei amazon.de erhältlich, 312 Seiten, Independently published 2016, ISBN 978-1-5190-3331-4, € 15,08


Ein fürchterliches Unwetter hält die Marquise Madeleine de Rohan-Preuilly und ihren Gatten davon ab, gleich nach der feierlichen Verkündung des Ediktes von Nantes am 13. April 1598, zu der sie persönlich vom französischen König Heinrich IV. eingeladen worden waren, zurück zu ihrer Tochter Antoinette zu kehren, deren Hochzeit bevorsteht. Die gezwungene Zeit des Wartens benutzt die Marquise, um endlich den größten Wunsch ihrer Tochter zu erfüllen und über ihre vielen Jahre, die glücklichen und die schweren, am Hofe der französischen Königin Katharina de’ Medici zu berichten, an den sie bereits als kleines Mädchen gesandt worden war, um als Hofdame der Letzteren ausgebildet zu werden. Beim Verfassen ihrer Memoiren hat sie sich jedoch auch mit den dunklen Geheimnissen ihrer eigenen Familie erneut auseinanderzusetzen, die sie so gern für immer vergessen hätte.


Zusätzliche Informationen zum historischen Roman

Hier finden Sie, liebe Leser und Leserinnen, weitere Informationen über die historischen Gestalten, die in diesem historischen Roman auftreten oder genannt werden, wie z. B. Bildnisse und Biografien:

  1. Katharina de’ Medici
    Über diese bedeutende historische Person gibt es zudem folgende Kurzbiografie auf meiner Webseite:
    Katherina de’ Medici (1519-1589): Die unermüdliche Friedensmaklerin
    Wer noch mehr über Katharina de’ Medici erfahren möchte, sollte sich mein Buch „Frauen in der Renaissance – 30 Einzelschicksale" besorgen.
  2. König Heinrich II. von Frankeich, Katharinas Gatte
  3. Diane de Poitiers, die Hauptmätresse von Heinrich II. von Frankreich
  4. König Franz I. von Frankreich, Katharinas Schwiegervater
  5. Katharinas 1. Sohn Franz II., König von Frankreich
  6. Katharinas Schwiegertochter, die schottische Königin Maria Stuart, die Gattin von Franz II. von Frankreich
  7. Katharinas 1. Tochter Elisabeth, die Königin von Spanien
  8. Elisabeths Gatte, der spanische König Philipp II., König von Spanien
  9. Elisabeths ältere Tochter Isabel Clara Eugenia
  10. Elisabeths jüngere Tochter Catalina Micaela
  11. Katharinas 2. Tochter Claude, Herzogin von Lothringen
  12. Katharinas 3. Sohn Karl IX., König von Frankreich
  13. Karls IX. Gattin, Elisabeth, die zweite Tochter des Kaisers Maximilian II.
  14. Karls IX. Geliebte Marie Touchet
  15. Katharinas Lieblingssohn Heinrich III., König von Frankreich
  16. Heinrichs III. Gattin, Louise de Vaudémont
  17. Katharinas 3. Tochter Marguerite, Königin von Navarra
  18. Marguerites Gatte, Heinrich IV., König von Navarra und später von Frankreich
  19. Jeanne d’Albret, Königin von Navarra und Mutter von Heinrich IV.
  20. Katharinas jüngster Sohn, Franz-Hercule
  21. Franz-Hercules so sehr gewünschte Traumgattin, die englische Königin Elisabeth I.
  22. Franz oder François von Lothringen, Herzog von Guise
  23. Heinrich I. von Guise, der älteste Sohn von Franz von Guise
  24. Karl (oder Charles) von Guise, Herzog von Mayenne, mit seinen Brüdern Heinrich I. und Ludwig (oder Louis), Söhne von Franz von Guise

Videos von den Tänzen, die in diesem Roman erwähnt werden und von denen es viele Varianten gibt:

  1. der Branle I und der Branle II
  2. die Courante
  3. die Volte
  4. die Galliarde und die Galliarde II
  5. die Pavane I, die Pavane II und die Pavane mit vier Damen

Vorwort und Kapitel I

Nantes, den 16. April 1598

Meine geliebte Antoinette,

leider können Papa und ich nicht schon, wie versprochen, am 18. April wieder bei Dir sein. Bitte unsere treue Seele, Jehanne, dass sie Dich bis zu meiner Ankunft tatkräftig bei den Vorbereitungen zur Hochzeit unterstützt. Sobald der heftige Dauerregen nachgelassen hat und der Boden nicht mehr allzu weich und schlammig ist, werden wir es wagen, uns auf den Heimweg zu begeben. Aber nach den letzten Erfahrungen bei solch einem fürchterlichen Unwetter ‒ Du kannst Dich bestimmt noch an den Achsenbruch unserer Kutsche und die schmutzige Unterkunft im Gasthaus „Frohe Einkehr“ im letzten Jahr erinnern ‒, möchte ich Papa und mir nicht noch einmal etwas so Unangenehmes zumuten.

Die Tage hier in Nantes waren sehr schön. Seine Majestät, Heinrich IV., ließ es sich nicht nehmen, uns persönlich willkommen zu heißen. Es war besonders für mich eine hohe Ehre, bei der Verkündung des Ediktes von Nantes am 13. April anwesend sein zu dürfen. Den Hugenotten wurde mit diesem Erlass im ganzen Königreich endlich die volle und ungeteilte Gewissensfreiheit zugesichert. Außerdem wurden ihnen die ausgedehntesten bürgerlichen Rechte zugebilligt. Wie wir Katholiken sind sie von nun an vorbehaltlos zu allen Würden und Ämtern zugelassen.

O Antoinette, wie habe ich diesen Tag herbeigesehnt! Endlich hört der schon über 30 Jahre währende Bürgerkrieg auf, in dem machtgierige Menschen, angeblich aus reinen Glaubensgründen, teures französisches Blut für ihre egoistischen, eitlen und unberechtigten, rein politischen Ziele opferten. Hoffentlich kehren in unser geplagtes Vaterland nun endlich wieder Ruhe, Frieden, Glück, Fröhlichkeit und Nahrung im Überfluss ein. Vielleicht können wir schon bald wieder ohne Angst, von hugenottischen oder katholischen Räubern überfallen oder sogar ermordet zu werden, durch unser geliebtes Frankreich reisen.

Die Zeit bis zu unserer Abreise werde ich damit verbringen, Dir Deinen größten Wunsch zu erfüllen. Ja, ich habe mich nach unserem letzten gemeinsamen Gespräch endlich dazu durchringen können, meine Erinnerungen an die vergangenen Jahre schriftlich niederzulegen und Dich somit an meinen bisher glücklichsten und traurigsten Momenten voll teilhaben zu lassen. Während ich zu Feder und Tinte gegriffen habe, liest Papa derweil wie gewohnt. Er liebt dieses unfreundliche Wetter, da es ihm immer einen guten Grund bietet, sich hinter irgendwelchen Büchern zurückzuziehen. Zurzeit liest er die wissenschaftlichen Traktate eines gewissen Giordano Bruno, der zu Beginn der 80er Jahre in Paris seine Vorlesungen gehalten hatte. Bestimmt wird Papa uns zu Hause über diesen Mann und seine Werke gründlichst aufklären. Dieser ehemalige Dominikanermönch soll doch tatsächlich behauptet haben, dass es außer unserer Erde noch unzählige andere Welten geben würde, mit Wesen wie uns oder sogar höher entwickelten Kreaturen. Eine ungewöhnliche Theorie, nicht wahr, Antoinette?

Adieu, meine geliebte Tochter, bald werden wir wieder bei Dir sein! Deine Mama

I

Geboren wurde ich ‒ wie Du weißt, geliebte Antoinette ‒ am 14. Mai 1554 auf dem Stammschloss meiner Vorfahren väterlicherseits, der trotzigen, uneinnehmbaren Burg Alleuze im Herzogtum Auvergne, die heute leider nach den schrecklichen Bürgerkriegen viel von ihrem ehemaligen äußeren Charme eingebüßt hat. Mein Vater, der Marquis Herluin de Alleuze, Vicomte d’Orcival, der meinem Großvater im Jahre 1517 als einziger Sohn nach neun Töchtern von seiner zweiten Gattin geschenkt worden war, gehörte zu einem der ältesten und berühmtesten französischen Geschlechter, dessen Stammbaum sich bis Anfang des 10. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt.

Mein Vater blieb nicht lange in der Obhut seiner fast nur aus weiblichen Mitgliedern bestehenden Familie, denn schon im Alter von sieben Jahren schickte mein Großvater ihn an den Hof des von ihm hochverehrten Königs Franz I., wo er mit dessen drei Söhnen Franz, geboren im Jahre 1517, Heinrich, geboren im Jahre 1519, und Karl, geboren im Jahre 1522, gemeinsam erzogen und unterrichtet wurde. Und unser allseits verehrter König Franz I. hatte meinen Vater ebenso liebgewonnen wie seine eigenen Söhne, denn der Sprössling des Hauses de Alleuze erwies sich schon bald als ein tollkühner Reiter, ein ausgezeichneter Bogenschütze, ein mutiger Kämpfer, ein begeisterter Jäger, ein ungewöhnlich begabter Tänzer und als ein fantastischer Unterhalter. Mit 19 Jahren nahm mein Vater zum ersten Mal an den Kriegen gegen den ärgsten Feind unseres Königs, Kaiser Karl V., in Savoyen und Piemont teil. Zwei Jahre währte der Kampf, bis in unserem Königreich wieder für kurze Zeit der Frieden einziehen konnte. In den Jahren 1542 bis 1544 kämpfte er dann im Auftrage seines königlichen Herrn gegen die vereinigten Truppen des englischen Königs Heinrich VIII. und des Kaisers.

Mein Vater war wirklich ein „Kriegsmann par excellence“, und Seine Majestät, Franz I., konnte ihn wegen seines Mutes nicht genug loben. Nach dem Tode der königlichen Prinzen Franz und Karl besetzte somit mein Vater das Herz des Königs, der ihn stets an seiner Seite wissen und ihn nicht einen Tag lang missen wollte, denn die Beziehung zu seinem einzigen noch lebenden Sohn Heinrich war leider nie besonders innig.

Im Jahre 1547 jedoch starb unser geliebter König ‒ Gerüchten zufolge an einer Geschlechtskrankheit ‒, und mein Vater kehrte daraufhin zu seinem Stammschloss zurück. Seine Eltern, meine Großeltern also, waren schon seit Jahren tot, und von den noch acht lebenden Schwestern waren die sechs jüngsten im benachbarten Kloster untergebracht worden, während die zwei ältesten sehr vorteilhaft verheiratet werden konnten.

Mein Vater dachte nun ebenfalls daran, eine Familie zu gründen. An schönen Bräuten fehlte es nicht. Liebe Antoinette, Du musst wissen, mein Vater hatte den Ruf, der schönste Mann Frankreichs zu sein. Mit seinen 1,93 m überragte er jeden anderen Mann, und er hatte durch seine sportlichen Betätigungen einen kräftigen Brustkorb und breite Schultern erworben. Auch sein Gesicht mit den sinnlichen Lippen, der wohlgeformten Nase und den strahlend-blauen Augen ließ viele Frauenherzen in seiner Gegenwart schneller schlagen. Ich persönlich liebte als kleines Kind besonders sein weiches, lockiges, gold-schimmerndes Haar. Du kannst Dir bestimmt vorstellen, dass es meinem Vater nicht schwerfiel, die Frauen in seiner Umgebung leicht von dem Pfad der Tugend abzulenken. Jedenfalls hatte er schon in jungen Jahren den Ruf eines ausgezeichneten Liebhabers erworben.

Für meine Mutter, Bonne d’Artois, Gräfin von Nevers, war das bestimmt nicht einfach. Sie wurde im Jahre 1548 als Dreizehnjährige mit meinem Vater verheiratet. Als Sprössling eines der ältesten Geschlechter Frankreichs war sie in den hohen Adelskreisen als Braut sehr begehrt, und mein Vater war deshalb sehr stolz, dass er unter den zahlreichen Bewerbern um ihre Hand als Gewinner hervorging. Meine Eltern sollen zudem das schönste Brautpaar Frankreichs gewesen sein. Denn auch meine Mutter galt als ein Ausbund an Schönheit. Ich selbst kann mich noch sehr gut an ihr langes, bis zu den Kniekehlen reichendes, schwarzes Haar, ihre leuchtenden, dunklen Augen und ihre feingliedrigen, sanften Hände erinnern. Auch an Tollkühnheit stand sie meinem Vater nicht im Geringsten nach. Sie war ebenfalls eine ausgezeichnete Bogenschützin, eine außergewöhnlich begabte Tänzerin und eine waghalsige Reiterin. Auf den wildesten Pferden, die selbst mein Vater für unberechenbar und für zu gefährlich hielt, unternahm sie ihre täglichen morgendlichen Ausritte. Gefährliche Stürze blieben dabei natürlich nicht aus. So erzählten mir die Dienstleute an unserem Hofe, dass meine Mutter mehrere Male mit komplizierten Knochen­brüchen nach Hause gebracht werden musste. Aber keine gebrochene Rippe, kein gebrochenes Bein, keine Gehirnerschütterung konnten sie davon abhalten, sobald wie möglich wieder auf einem ihrer wilden Hengste zu sitzen.

Ein Jahr nach der Hochzeit meiner Eltern erlitt meine Mutter eine Fehlgeburt, für die mein Vater nur sie allein verantwortlich machte, da sie sich angeblich nicht genug geschont hätte. Um diesem Vorwurf zu entgehen, gab sich meine Mutter alle Mühe, ein Jahr später, im Jahre 1550, den erwünschten Erben zu liefern, meinen älteren Bruder, der nach unserem Vater Herluin genannt wurde.

Und mein Bruder Herluin setzte bei seiner Tauffeier einen Monat nach seiner Geburt alle Anwesenden in großes Erstaunen. Denn ‒ das schworen alle ‒ nie sah man jemals ein so schönes Kind in einer Wiege liegen. Gott schien seine wertvollsten Schatztruhen für ihn geöffnet zu haben. So war nicht der geringste Makel an ihm zu entdecken. Die wohlgeformteste Nase, die leuchtendsten Augen, der sinnlichste Mund zierten sein Gesicht. Neidisch gratulierten die hohen Gäste meinen Eltern zu diesem auserwählten Kind. Im Jahr 1551 erlitt meine Mutter hingegen eine Totgeburt, die ihr fast selbst das Leben gekostet hätte. Die Ehe meiner Eltern schien zudem seit dieser Zeit nicht mehr als glücklich bezeichnet werden zu können. Zu sehr verletzten meine Mutter die vielen außerehelichen Beziehungen meines Vaters, der bei der Auswahl seiner Beischläferinnen keinen Unterschied zwischen Dienstmagd und Herzogstochter machte.

In den Jahren 1552 und 1553 war mein Vater außerdem wieder im Auftrage des neuen Königs, Heinrich II., am Kriegsgeschehen gegen Karl V. beteiligt und bewirkte unter anderem durch seinen mutigen Einsatz die Besetzung Korsikas.

Als er wieder heimkehrte, flammte die Liebe zwischen meinen Eltern für kurze Zeit wieder auf, so dass ich ein Jahr später, am 14. Mai 1554, und zehn Monate nach mir mein zweiter Bruder, Ysambert, zur Welt kamen. Aber schon kurz nach der Geburt meines jüngeren Bruders ertappte meine Mutter meinen Vater in einer intimen Szene mit einer ihrer Hofdamen, und von da an bis zu ihrem frühen Tod weigerte sie sich vehement, je wieder das Bett mit ihrem Gatten zu teilen. Wozu es wohl auch sonst kaum noch gekommen wäre, da mein Vater nur noch sehr selten an unserem Hofe verweilte.

Schon als Kind konnte er es nämlich nicht ertragen, länger als zwei bis drei Wochen an einem Ort leben zu müssen. Als unruhiger Vagabund liebte er es, stets unterwegs zu sein. Im Jahr 1557 war er mit dem Herzog Franz von Guise in Rom, um gegen die spanischen Truppen des Herzogs von Alba zu kämpfen. Leider erwiesen sich die Feinde als schlagkräftiger, so dass mein Vater zum ersten Mal eine sehr schwere Niederlage einstecken musste. Außerdem brach in seiner Armee eine fürchterliche Seuche aus, die vielen seiner Freunde das Leben kostete. Gott sei Dank, wurde er schon bald wieder nach Frankreich zurückberufen, um gegen die Spanier und Engländer im Nordosten unseres Vaterlandes zu kämpfen. Aber auch diese kriegerische Auseinandersetzung endete nicht besonders glorreich für unser Vaterland. 1557 besiegten die Spanier uns bei Saint-Quentin vernichtend. 10.000 unserer Kämpfer wurden getötet oder verwundet, 4.000 gerieten in Gefangenschaft. Auch mein Vater zog sich eine schwere Verletzung an seiner rechten Schulter zu, die ihm bis zu seinem Lebensende noch viele schmerzhafte Stunden bereiten sollte.

Bei uns zu Hause merkten wir natürlich nichts von diesen Kriegen. Ich verbrachte meine freie Zeit, in der ich nicht zum Lesen, Schreiben oder Sticken gezwungen war, mit meinem kleinen Bruder, mit dem ich zusammen herumtollte, „Mutter und Vater“ spielte, Erkundungstouren um unser Schloss herum unternahm oder den spannenden Geschichten unserer Mutter lauschte. Letzteres machte Ysambert und mir besonders viel Freude. Auf einer kostbaren, weichen Decke im Schlossgarten sitzend oder liegend, folgten wir den aufregenden Abenteuern zu Lande und zu Wasser, die meine Mutter uns so lebhaft mit Drachen, einäugigen Ungeheuern, bocksbeinigen Teufelchen, guten Feen, lieben Zauberern und starken Helden schildern konnte.

Alles wäre in Harmonie und Ordnung gewesen, wenn es da nicht das Problem mit unserem älteren Bruder gegeben hätte.

Ysambert und ich, die leider beide kaum als schön bezeichnet werden können ‒ alles Schöne in der Schatztruhe Gottes war für Herluin aufgebraucht worden ‒, hatten panische Angst vor unserem älteren Bruder, der sehr schnell jähzornig und brutal werden konnte. Selbst der geringste Anlass, ein falsches Wams, das ihm sein Diener aus Versehen überziehen wollte, eine Speise, die er nicht ausstehen konnte, Regen statt Sonnenschein ..., es gab unzählige Kleinigkeiten, die seine hemmungslosen Wutausbrüche auslösten. Und dann warf er mit Gläsern, Bechern, Steinen und schließlich mit allem, was sich in seiner Nähe befand, auf die ihn Umgebenden. Meiner Mutter fiel es mit den Jahren immer schwerer, ihn wieder zur Ruhe zu bringen. Nach diesen Wutausbrüchen, die bald täglich stattfanden, wurde er meistens sehr schweigsam und grübelte allein vor sich hin oder er heulte zum Steinerweichen.

Ysambert und ich hielten es für das Beste, ihn aus der Ferne zu beobachten. Wir hatten ‒ ehrlich gestanden ‒ große Angst vor ihm. Unser Vater hingegen war sehr stolz auf Herluin, erwies dieser sich doch als ebenso tollkühn, waghalsig und mutig wie er selbst. Die Geschichten, die ihm meine Mutter durch ihre Dienstmänner über unseren älteren Bruder zutragen ließ, hielt er, der selbst zum Jähzorn neigte, für völlig übertrieben und verzeihbar.

Aber im Frühjahr 1559 trat eine Steigerung im sonderbaren Benehmen Herluins auf. Eines Morgens war unser ganzer Innenhof mit toten Hühnern übersät. Das Mordinstrument, ein großes, mit Blut beschmiertes Beil, lag noch neben einem Baumstumpf. Der Anblick war zum Fürchten. Die Wände um den Hof herum waren mit Blut bespritzt, und die zuckenden Leiber der erst vor kurzem enthaupteten Hühner ließen Ysambert und mich erschaudern. Unsere Mutter wusste anscheinend sofort, wer der Übeltäter war und bestrafte meinen Bruder mit Hausarrest für einen vollen Monat. Die Diener ‒ nebenbei erwähnt ‒ hatten es in Anbetracht des Beiles nicht gewagt, meinen Bruder von seiner Wüterei zurückzuhalten.

Der Hausarrest bewirkte jedoch keine Veränderung im Verhalten Herluins. Eines Tages musste meine Mutter entdecken, dass irgendjemand ihren Lieblingshengst mit einem Messer grausam verstümmelt hatte. Aus unzähligen Wunden floss das Blut, und der Anblick des geschundenen Pferdes blieb für mich zeitlebens unvergesslich. Um ihm die unerträglichen Schmerzen zu nehmen, musste meine Mutter ihren Lieblingshengst selbst erschießen. Der Übeltäter war niemand anders als unser ältester Bruder. Die Wut unserer Mutter war unbeschreiblich. So hatten wir sie noch nie gesehen. Ysambert und mir gegenüber hatte sie noch nie ihre Stimme erhoben, stets sprach sie in freundlichem Tone mit uns. Nur mit Herluin verfuhr sie streng.

Und in diesem beschriebenen Fall befahl sie einem Diener unseren Bruder kräftig mit der Rute zu züchtigen, wobei sie die Strafe auf 30 Schläge festsetzte, die sie selbst überwachte. Ysambert und ich versteckten uns in unserem Schlafraum und hielten uns die Ohren zu, um die schmerzerfüllten Schreie unseres Bruders nicht mit anhören zu müssen. Laut zählten wir die auf dessen Rücken auftreffenden Schläge mit und hofften, dass nur zu bald unser „30“ erklang. Unsere Mutter schien das Schreien ihres Sohnes nicht zu stören. Sie pochte auf die Ausführung der Strafe.

Der Anblick unseres Bruders hinterher war mitleiderregend, und zum ersten und wohl auch einzigen Mal bedauerten Ysambert und ich ihn von ganzem Herzen. Da unsere Mutter ihn zudem zu Wasser und Brot für vier Wochen verurteilt hatte, stahlen wir uns mit den auserlesensten Speisen, die wir dem Koch abbetteln konnten, in die Kammer unseres Bruders. Er machte auf uns beide einen sehr erbärmlichen Eindruck, wie er völlig gekrümmt auf seinem Bett lag und sich wegen der Wunden auf dem Rücken kaum bewegen konnte. Zudem schien er wenige Tage später zu fiebern, was meine Mutter überhaupt nicht zu interessieren schien. Ysambert und ich versuchten, eine Dienstmagd zu überreden, unserem Bruder zu helfen. Aber alles Zureden und selbst das Angebot, dass sie meine Perlenkette, die ich zur Taufe von unserer Königin Katharina de’ Medici als Geschenk erhalten hatte, bei feierlichen Anlässen tragen dürfe, brachten nichts. Ysambert und mir blieb nur noch der liebe Gott im Himmel, den wir inbrünstig baten, unserem Bruder zu helfen. Und tatsächlich gesundete er zu unserer großen Freude wieder. Aber leider änderte auch diese harte Strafe Herluin nicht im Geringsten! Anstatt seinen Geschwistern dankbar für ihre Hilfe zu sein, tötete er Ysamberts Lieblingskatze und meinen Lieblingshund, indem er sie außerhalb unseres Schlosses mit der Rute, mit der er selbst geschlagen worden war, zu Tode prügelte. Ein Kaufmann, der uns regelmäßig mit neuen Stoffen versorgte, fand unsere Lieblinge auf dem Weg zu unserem Schloss von einer großen Eiche baumelnd.

Unsere Mutter blieb nach Bekanntgabe dieser erneuten Untat unseres Bruders eigenartig ruhig. Ich weiß noch genau, dass Ysambert und ich regelrecht schockiert von ihrer angeblichen Gleichgültigkeit waren.

Einen Tag später hörten wir laute, schmerzerfüllte Schreie, die aus dem Pferdestall kamen. Mit den Dienern liefen Ysambert und ich zu den Pferchen. Mutters neues Pferd, ein wilder schwarzer Hengst, wieherte und bäumte sich ohne Unterlass auf. Der mutige Stallmeister unseres Schlosses befahl uns, uns in Sicherheit zu bringen, bevor er das Gatter des wild um sich ausschlagenden Pferdes öffnete. Mit voller Kraft raste der Hengst an uns vorbei, bäumte sich erneut auf, versuchte verzweifelt aus dem Schloss auszubrechen und ließ sich erst eine Stunde später mit Hilfe mehrerer Stallknechte beruhigen. In seinem Pferch selbst ließ er unsere Mutter tot und unseren Bruder schwer verwundet zurück.

Unser Vater kam zwei Wochen später, nachdem man ihn vom Vorfall benachrichtigt hatte. Mutter wurde in der nahe liegenden Abtei, in der immer noch fünf ihrer Schwägerinnen als Nonnen tätig waren, beigesetzt. Angeblich wäre sie aufgrund eines tragischen Unfalls ums Leben gekommen. Unser Bruder Herluin erholte sich nur langsam. Wie durch ein Wunder hatten sein schönes Gesicht und seine wohlgeformten Hände nicht die kleinste Verletzung erhalten. Nur sein Körper war übersät mit großen Narben. Niemand ‒ nicht die Diener, noch Vater, Ysambert und ich ‒ erwähnte, dass mein Bruder von meiner Mutter mit einer Lederschnur fest an sie gebunden worden war, so dass er nicht die geringste Chance hatte, den kräftigen Hufschlägen des Hengstes zu entfliehen. Zusammen mit ihm wollte sie sterben. Den Abschiedsbrief meiner Mutter an meinen Vater fand ich erst nach seinem Tode in seiner kleinen Truhe, in der er alles Wertvolle aufbewahrte.

„Alleuze, den 22. September 1559
Geliebter Gemahl,
bitte verzeihe mir, was ich Dir angetan habe. Aber mir blieb keine andere Wahl! Unser ältester Sohn hat die Krankheit unserer Familie geerbt, über die ich so gern geschwiegen hätte. Fast in jeder Generation unseres Hauses tritt sie auf und sorgt für Kummer und Schmerz. Mein Bruder litt ebenfalls an ihr. Mein Onkel ließ ihn, nachdem er zwei unserer Diener ermordet hatte ‒ was wir Gott sei Dank mit Geld vertuschen konnten ‒ für alle Zeiten in einem Burgverlies verschwinden. Herluin, Dein Sohn, so schön und mutig er Dir erschien, wäre wie mein Bruder zu einem unberechenbaren Monster geworden. Ich möchte nicht, dass er meiner Madeleine, meinem Ysambert, Dir, den ich nie aufgehört habe, mehr zu lieben als alles andere auf dieser Welt, oder meinem Dienstpersonal, für das ich mich verantwortlich fühle, irgendetwas antut. Da ich ihn geboren habe, fühle ich mich verantwortlich, mit ihm gemeinsam zu sterben. Vergib’ mir, Geliebter!“

Da Vater schon bald wieder von seinem Wanderfieber ergriffen wurde, übergab er meinen Bruder Ysambert, der die geistliche Laufbahn betreten sollte, dem benachbarten Kloster, um ihn dort auf sein zukünftiges geistliches Amt vorzubereiten. Herluin blieb auf unserem Schloss, und ich wurde an den Hof der großen Königin Katharina de’ Medici geschickt, um mit ihrer jüngsten Tochter Marguerite gemeinsam erzogen und unterrichtet zu werden. Der Tag meiner Abreise war der 21. November 1559.