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Eine Zeitreise in eine spätmittelalterliche Stadt 1437/1438

Aufzeichnungen einer ungewöhnlichen Reise (Auszug aus meinem Buch)

Vorwort

Marburg an der Lahn, den 28.11.1989

Kaum zu glauben, aber wahr! Uns, das heißt, einer kleinen, an Geschichte sehr interessierten Gruppe aus vier Teilnehmern und neun Teilnehmerinnen im Alter von 25 bis 35 Jahren und mir als deren Leiterin, ist etwas Sensationelles im Geschichtsbereich gelungen. Endlich ist es – zumindest in dieser Geisteswissenschaft – vorbei mit der langweiligen Theorie. Nach fast dreijähriger Forschungsarbeit ist es uns nämlich geglückt, eine Zeitmaschine zu entwickeln. Ja, Sie lesen richtig: eine Zeitmaschine!

Vor knapp einem Monat habe ich mich – die Neugierde besiegte die Angst – als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt. Ich landete in einer mittelalterlichen Stadt im Norden Deutschlands, und zwar im Jahr 1437. Relativ schnell gelang es mir hier, Kontakt mit zwei freundlichen Bürgern, einem Kaufmann namens Reinhold von Münzenberg und einem Blaufärber namens Johannes Bussow aufzunehmen. Beide Herren fanden sich ohne Zögern bereit, je zwei von unseren Gruppenmitgliedern für volle drei Monate aufzunehmen und zu verpflegen. Das Los traf Holger L. (Diplomchemiker, 31 Jahre alt), Heinke S. (Gymnasiallehrerin in Latein und Biologie, 30 Jahre alt), Claudia H. (Hausfrau und Mutter von vier Kindern, 30 Jahre alt) und Kurt K. (Diplomchemiker, 32 Jahre alt). Nun verbringen wir seit fast vier Wochen jede freie Minute mit der Anfertigung von zeitgemäßen Kleidungsstücken. Gott sei Dank, haben unsere Gruppenmitglieder Ulrike, Angelika und Eve in der Volkshochschule Nähkurse belegt.

(für die Einträge 1 und 2 siehe mein Buch bzw. E-Book)

Eintrag 3

Claudias Bericht, geschrieben am 5.12.1437

Mittlerweile bin ich schon den vierten Tag bei der Familie Bussow. Es war am Anfang alles so neu und ungewohnt für mich, daß ich einfach nicht die innerliche Ruhe zum Schreiben fand. Außerdem wollte ich auch erst einmal unsere Gastgeber und ihr Haus kennenlernen!

Holger und ich wurden am 2.12.1437 von Herrn Johannes Bussow abgeholt. Der Empfang im Haus war riesig. Unsere Gastgeberin, Barbara Brengbier, die Gattin von Johannes Bussow, hatte keine Mühen und Kosten gescheut, um uns zu verwöhnen. Zum Abendessen gab es fünf Gänge! Zuerst wurde eine Eiersuppe mit Safran, Pfefferkörnern und Honig serviert, gefolgt von Schaffleisch mit Zwiebeln, Brathuhn und gesottenen Aal mit Pfeffer. Zum Nachtisch gab es noch eingemachtes Obst, das mit zerstoßenem Weißbrot, Gewürzen wie Ingwer und Muskatblüte, Mehl und Milch zubereitet worden war.

Jeden Tag werden wir zweimal mit solchen fürstlichen Mahlzeiten beglückt. Heute zum Beispiel gab es zur ersten Hauptmahlzeit Stockfisch mit Öl und Rosinen, Bleie in Öl gebacken, gerösteten Bückling mit Leipziger Senf, gesottene Fische, sauer zubereitete, gebackene Barben und Nüsse zum Nachtisch. Dreimal dürft Ihr raten, was für einen Wochentag wir heute haben? Zum Abendessen wird es wohl wieder Fisch geben!

Albrecht Dürer
Abb. 12: Auch Albrecht Dürer legte seine Haare in Locken

Unser Gastgeber, Johannes Bussow, Waidfärber von Beruf, löst weder bei Holger noch bei mir großes Sympathieempfinden aus. Er ist arrogant, hochnäsig und sehr auf sein Äußeres bedacht. Sein langes dunkelbraunes, fast schwarzes Haar legt er jeden Abend in Löckchen (Abb. 12). Er sieht sehr athletisch aus und nicht klapperdürr, wie Heinke behauptet, und ist eigentlich ein richtiger Mann zum Anhimmeln. Er hat blaue Augen, eine wohlgeformte Nase und einen schönen Mund. Laut Informationen, die ich mir hier und dort besorgt habe, soll er ganz klein angefangen haben. Durch seine Heirat mit Barbara und seinem wirklich rücksichtslosen Egoismus hat er sich jetzt aber im Alter von 35 Jahren zu einem angesehenen, wohlhabenden Mann hochgearbeitet.

Seine Frau, seine Kinder, die Gesellen und die Lehrlinge und das Gesinde haben unter seinen Launen und seiner Aggressivität sehr zu leiden. So hart er gegenüber sich selbst ist, so hart ist er auch zu seinen Leuten. Von ihnen fordert er Respekt und Gehorsam und schlägt die weiblichen wie männlichen Angehörigen seiner Haushaltsfamilie notfalls mit Ausdauer. Für ihn gelten die Erziehungstheorien von Abaelard aus dem 12. Jh. und Berthold von Regensburg aus dem 13. Jh.: "Wer seine Rute schont, der haßt seinen Sohn" oder "Von der Zeit an, wenn das Kind die ersten bösen Worte spricht, sollt ihr ein Rütlein bereithalten, das jederzeit an der Decke oder an der Wand steckt."

Dabei soll seine Schlagwut seit unserer Ankunft abgenommen haben.

Uns selbst gegenüber ist er der perfekte Gastgeber und behandelt Holger und mich wie rohe Eier.

Unsere Gastgeberin, Barbara Brengbier, ist genau das Gegenteil von ihrem Mann. Sie ist lieb, zuvorkommend, kann phantastisch gut zuhören, ist überaus zärtlich zu ihren Kindern und erträgt die Allüren ihres Mannes mit Gleichmut. Sie wirkt mit ihren 31 Jahren weitaus älter als ihr Mann. Ihr hellbraunes Haar, das tagsüber vollkommen in einer weißen Haube versteckt wird und nachts unter einer Schlafmütze verschwindet, kommt kaum zum Vorschein. Sie hat blaue Augen, einen wohlgeformten Mund, aber eine etwas zu groß geratene Nase.

Barbara stammt aus einer hier ansässigen, wohlhabenden Färberfamilie und wurde nach 22 Kindern als Zwillingskind geboren. Von ihren Geschwistern leben nur noch drei! Ihre Zwillingsschwester starb z.B. im Alter von 12 Jahren. Mit 14 Jahren wurde unsere Gastgeberin mit dem 18-jährigen, erfolgversprechenden Gesellen ihres Vaters, Johannes Bussow, verheiratet.

Seit ihrer Heirat hat sie ihrem Manne nun schon 17 Kinder geschenkt, aber nur fünf sind noch am Leben. Die meisten starben schon kurz nach der Geburt. Erst vor nicht allzu langer Zeit hatte der Tod ihre gerade 10-jährige Tochter Gertrud geholt.

Wie ich zu Hause in einem Bericht des Historikers Klaus Arnold gelesen habe, starb damals eines von zwei geborenen Kindern bereits im ersten Lebensjahr. Somit wurde jedes zweite Kind geboren, um zu sterben. Auch in guten Zeiten starb jedes fünfte Kind, bevor es zwei Jahre alt werden konnte.

Ich weiß, daß im 15. Jh. 20 Geburten in einer Ehe keine Seltenheit waren! Albrecht Dürers Mutter, Barbara Holper (um 1450/51-1514), z. B. brachte in 25 Jahren 18 Kinder auf die Welt. Der durchschnittliche Abstand zwischen den Geburten ihrer Kinder, darunter auch eine Zwillingsgeburt, lag bei einem Jahr und sieben Monaten, und die Geburtstermine schwankten zwischen 9 und längstens 29 Monaten. Aber die damaligen Verhältnisse, die mangelnde Hygiene, die Epidemien, der Schmutz und die Enge der Wohnverhältnisse und die fehlerhafte Ernährung führten zu einer sehr großen Kindersterblichkeit. Von den 20 Kindern einer mittelalterlichen Mutter erreichten letztendlich nicht mehr als ein bis zwei das Heiratsalter.

Kinderbad
Abb. 13: Das Kinderbad

Während ich hier in der Küche meine Notizen zu Papier bringe, wäscht Barbara gerade ihre Kinder. Sie hat einen großen Holzbottich in die Küche tragen lassen, und der dreijährige Berthold, genannt nach ihrem Vater, planscht vergnügt im Wasser (Abb. 13).

Berthold ist ihr jüngstes Kind. Es soll wie sein Großvater mütterlicherseits aussehen. Sein feuerrotes Haar sticht jedenfalls völlig von der Haarfarbe seiner Eltern ab.

Neben Berthold, dem Stolz unseres Gastgebers, gibt es noch die Töchter Anna, 6 Jahre alt, Kristein, 8 Jahre alt, und Katharina, 13 Jahre alt. Die Tochter Ursula, 14 Jahre alt, wurde vor fünf Monaten mit einem Freund des Vaters, Tideman Brekelvelde, verheiratet. Für den 34-jährigen Tideman ist es die zweite Ehe. Seine erste Frau starb vor gut einem Jahr.

Katharina, die nun älteste Tochter im Haus, ähnelt ihrem Vater äußerlich am meisten. Sie wird bestimmt viele heimliche Verehrer haben. Ihr dunkles Haar fällt in natürlichen Locken auf ihre Schultern, wenn es nicht – wie meistens – geflochten wird. Kristein sieht sehr blaß und mager aus. Ihre tiefen dunklen Augenringe lassen Böses ahnen. Deshalb ist Barbara sehr besorgt um sie. Gerade wieder streichelt sie ihr über das noch nasse Haar.

Anna ist Holgers Liebling. Jedenfalls haben die beiden schon am ersten Tag tiefe Freundschaft geschlossen. Eine besondere Schönheit ist sie nicht zu nennen. Ihr Haar ist sehr dünn, und ihr Mund fällt viel zu schmal aus. Aber sie ist wie ihre Mutter eine herzensliebe Person, umsorgt ihren Bruder wie eine Glucke ihre Küken und gleicht in ihrem Verhalten schon mehr einem Erwachsenen als einem sechsjährigen Kind.

Zur Familie zählen dann noch die zwei Lehrlinge: der 9-jährige Martin Behaim und der 14-jährige Henning Vogelsack, die zwei Gesellen: der 17-jährige Hans Merz und der 28-jährige Heinrich Pape, die zwei Knechte: Bernhard Berwolf, 27 Jahre alt, und Gerlach Witte, 46 Jahre alt, und vier Mägde: Mechthild Pyls, 9 Jahre alt, Taleke Hersse, 16 Jahre alt, Elisabeth Stagel, 17 Jahre alt, und Hate Udinck, 28 Jahre alt.

Ach ja, jetzt hätte ich fast vergessen zu erwähnen, daß Barbara schon wieder schwanger ist. In zwei Monaten soll ihr 18. Kind das Licht der Welt erblicken. Mittlerweile schreibe ich nicht mehr in der Küche, sondern oben in der Stube. Die Kinder haben ihre Wollstoffhemde und -untergewänder und gestrickten Oberröcke angezogen.

Nun erhält jedes Kind noch seine obligatorischen Korallenhalsbänder und -armbändchen. Barbara ist nämlich fest der Überzeugung, daß diese Korallen Unheil und Krankheiten von ihren Lieben fernhalten können. Kristein wird sogar mit drei Kettchen versorgt. Unsere Gastgeberin möchte schließlich nicht schon wieder eines ihrer geliebten Kinder verlieren.

Ihren kostbaren Oberrock hat Barbara wie stets bei häuslichen Arbeiten nach oben gerafft. Obwohl sie doch vier Mägde hat, ist sie nur am Schuften. Vorhin kehrte sie die Wohnung, und jetzt sitzt sie mit ihren Kindern und Mägden am Spinnen. Sie erzählte mir schon gestern, daß sie die Wollsachen und das Leinengarn für den eigenen Bedarf noch größtenteils selbst herstellen würde. Dabei macht das alles fürchterlich viel Arbeit. Die Wolle z.B. muß geklopft, gewaschen, sortiert, aufgerauht oder entwirrt, dann mit ihrem Handspinnrad gesponnen, gezwirnt und aufgespult, mit einem Webstuhl gewoben, in Bottichen gewalkt und schließlich von ihrem Mann gefärbt werden.

Aus dem Flachs dagegen stellt sie nur das Garn her. Nur!!? Das sage ich so einfach! Die trockene Pflanze muß - so erklärte Barbara mir - durch eiserne Kämme von Blättern und Samen gereinigt, anschließend geröstet und vom Pflanzenleim befreit werden. Dann muß das ganze noch gewaschen, gebrochen und gehechelt werden. Beim Hecheln wird der Bast der Pflanze durch Kämmen in lange Fasern zerlegt, die dann versponnen werden. Das Garn bringt sie dann zu den Garnzwirnern, die das Zwirnen gegen Lohn besorgen. Anschließend muß sie noch die Garnmacherinnen aufsuchen, die das gezwirnte Garn mit Appretur versehen und färben. Erst in diesem Zustand kann sie das Garn zu den Leinewebern bringen, die es – natürlich gegen Lohn – zu Stoffballen verarbeiten. Das Gewänderzuschneiden und Nähen übernimmt Barbara mit ihren Mägden wieder selbst.

Es macht Spaß, ihr beim Spinnen zu zuschauen. Auf dem Rocken, einem Holzstab, ist der Spinnstoff, hier Flachs, aufgesteckt worden. Mit den Fingern zieht sie die Fasern in kleinen Partien heraus, ordnet sie in gleicher Menge und dreht sie zusammen. Dann befestigt sie den Anfang des Fadens an der Spindel, ein oben und unten zugespitztes, ungefähr 30 cm langes Holzstäbchen, das mit einem Schwungrad aus Stein in Verbindung steht, und bringt die Spindel mit der rechten Hand in Umdrehung. Es sieht bei ihr alles so leicht aus! Ob ich es nachher auch einmal probiere (Abb. 14)?

Frau mit Spinnrocken
Abb. 14: Frau mit Spinnrocken (rechts)
Kind mit Laufhilfe und Windrädchen
Abb. 15: Kleinkind mit Laufhilfe und Windrädchen
 
Winterspiele
Abb. 16: Spiele im Winter

Da ich selbst Mutter von vier Kindern im Alter von zwei bis zwölf Jahren bin, interessiere ich mich hier natürlich sehr für die Kinder und deren Erziehung. Die vier Bussow-Kinder erinnern mich an meine. Sie spielen vor den Straßentüren Blindekuh, Versteckspielen, Plumpsack und hüpfen oder lassen ihre Windrädchen (Abb. 15) drehen.

Ab und zu gehen Anna und ihre Schwester Katharina auf dem zugefrorenen Fluß Schlittschuhlaufen. Ihre Schlittschuhe sind aus Holz geschnitzt worden (Abb. 16).

Anna hat mir heute morgen ihren ganzen Spielzeugschatz gezeigt. Sie besitzt eine Puppe aus Ton, die eine vornehme Dame darstellt (Abb. 17), und Spielzeuggeschirr, das sich aus drei kleineren, dickbäuchigen, grün glasierten Tonkrügen mit Henkeln zusammensetzt.

Handwerker mit Puppen aus Karneol
Abb. 17: Ein Handwerker stellt Puppen aus Karneol her

Besonders stolz ist sie auf ihre Murmelsammlung. Die Murmeln sind nicht wie die unsrigen aus Glas, sondern aus Ton und können in den Töpfereien gekauft werden. Sie sind in unterschiedlichen Größen und in den Farben Grau, Dunkelbraun und Weiß mit roten Punkten, Spiralen usw. zu erstehen. Gern liegt Anna mit Holger auf dem Boden der Stube, um mit ihren Murmeln aus einer gewissen Entfernung Zehenknochen, angeblich vom Rind, zu beschießen oder umzukegeln. Diese Zehenknochen sind ganz schön schwer für ihre Größe! Laut Holger liegt das daran, daß ihre Standflächen mit Blei gefüllt sind. Und dann hat Anna noch einen kegelförmigen Kreisel aus Holz und eine entsprechende Peitsche und einen Holzreifen, den sie mit einem Stock vor sich her treiben lassen kann. Katharina besitzt sogar Stelzen, die sie der Anna laut deren Aussage aber nicht zur Verfügung stellen würde. Berthold reitet draußen gern auf einer Gerte und kämpft mit seinem Holzschwert gegen den unsichtbaren Feind. Außerdem besitzt er ebenfalls Tonfiguren, z.B. einen gelb glasierten Reiter mit Helm auf einem Pferd und mehrere Tiere wie Kühe, Schweine und Katzen. In seinem Spielkasten entdeckte ich noch zwei Stoffbälle und eine Flöte aus Holz.

Jetzt sitzen Holger, Anna und Berthold auf dem Boden und spielen ein Würfelspiel. Dabei benutzen sie Knochen, die ursprünglich die Sprunggelenke von Schafen waren. Diese unregelmäßig geformten Knochen werden hochgeworfen und fallen auf eine ihrer vier Flächen, die unterschiedlich viel zählen. Jede Seite ist mit Kreisaugen verziert worden, so daß man leichter die Punkte zusammenrechnen kann.

Barbara zeigte mir gestern im Schlafzimmer eine Babyrassel und einen Beißring. Die Rassel wurde aus einem abgeschnittenen Geflügelschlund hergestellt, der zu einem Ring geformt und getrocknet wurde. Kleine Steine im Innern sorgen für das rasselnde Geräusch. Der Beißring, den ich zu sehen bekam, wurde aus einem getrockneten Gänseschlund gefertigt.

Ja, das hört sich, abgesehen von den verwendeten Materialien, alles so wie bei uns an. Und trotzdem habe ich einen riesigen Unterschied entdeckt. Denn das Kindsein hört hier mit sieben Jahren auf!! In diesem Alter treten die Kinder schon in den handwerklichen Arbeitsprozeß ein, werden Knechte, Mägde, Lehrlinge. Auch die niedrigen kirchlichen Weihen können ab sofort empfangen werden. Ein siebenjähriges Waisenkind muß jetzt für sich selbst aufkommen können. Nur die Mädchen werden zur Vorbereitung auf ihre zukünftige Rolle als Ehe- und Hausfrau länger im elterlichen Haus gehalten. Mündig werden die Jungen hier mit 18 Jahren, die Mädchen nie.

Als ich vor kurzem eine der vielen Biographien über Friedrich II., den Hohenstaufen, las, erschütterte mich das brutale Verhalten im Mittelalter selbst gegenüber Kindern. Heinrich VI., der Vater besagten Friedrichs, ließ im Jahre 1194 den siebenjährigen Wilhelm, den Sohn Tankreds von Lecce, der sich als Wilhelm II. zum Nachfolger in Sizilien erheben ließ und damit Heinrichs Feindschaft auf sich gezogen hatte, blenden und entmannen. Manfred, ein Sohn Friedrichs II., mußte sich gegen den Franzosen Karl von Anjou wehren und verlor. Der Glückliche starb in einer Schlacht, seine zwei- bis sechsjährigen Söhne Heinrich, Friedrich und Anzolino wurden im Kerker von Castel del Monte gefangengenommen, angekettet wie Tiere und völlig isoliert von ihrer Umwelt. Ihre Mutter, Helena von Epirus, starb 1271 fünf Jahre nach der Festnahme, und ihre Schwester Beatrix kam nach 18-jähriger Gefangennahme frei. Sie, die Jungen, aber wurden nach 30 Jahren in das Castel dell'Ovo verlegt, wobei angeblich einem von ihnen die Flucht gelungen sein sollte. Seine Brüder dagegen starben im Kerker, ausgezehrt und erblindet nach vier oder fünf Jahrzehnten unmenschlicher Gefangennahme.

Natürlich spielte im Mittelalter der Vater (theoretisch!) die bedeutende Rolle in der Erziehung. Denn wie hieß es in Leon Battista Albertis Schrift über das Hauswesen, die von 1432 - 1434 verfaßt wurde: "Wer hat die Aufgabe, die Kinder sittlich zu erziehen? Der Vater. Wer hat die Pflicht, sie Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben zu lassen? Der Vater. Wer muß die schwere Bürde auf sich nehmen, sie eine oder die andere Fertigkeit, eine Kunst oder Wissenschaft lernen zu lassen? Gleichfalls der Vater..."

Und so dachte er nicht nur allein. Schon Thomas von Aquino (1225 - 1274) stellte die gleichen Behauptungen auf. Und wo, bitte schön, ist Herr Bussow?

Waisen und behinderte Kinder werden laut Barbara, wenn sie Glück haben und nicht einfach ausgesetzt werden, in Klöstern und in eigens errichteten Findel- oder Waisenhäusern untergebracht. In den Klöstern würde es besondere Laden an den Türen geben, in die man die Kinder hineinlegen könnte. Schwenkt die Lade nach innen, weil sie mit einem Kind belegt worden ist, löst das ein Glockenzeichen aus, so daß das Baby herausgenommen werden kann. Besonders human würden solche Kinder aber nicht behandelt. Schon früh würde man ihre Arbeitskraft zum eigenen Vorteil ausnutzen. Deshalb würden die Waisen meistens noch früher als die anderen Kinder sterben!

Barbara ruft mich zum Essen! Ich werde nachher weiterschreiben!

Claudia

Was hatte ich vorhin prophezeit?

Fisch! Es gab wieder Fisch in fünf Gängen! Jetzt kann ich aber bis zum nächsten Freitag wirklich kein Fischgericht mehr sehen!

Die Zeit bis zum Schlafengehen möchte ich schnell noch nutzen, um das Haus und seine Räume zu beschreiben.

giebelständiges Haus
Abb. 18: Die feineren Häuser waren im Mittelalter wie dieses Haus aus unserer Zeit giebelständig

Unsere Gastgeber leben aus Berufsgründen am Rande der Stadt. Ihr Haus wurde, wie es hier wohl allgemein üblich zu sein scheint, an der Straßenfront errichtet und ist giebelständig (Abb. 18).

Wie alle anderen von mir bisher gesehenen Häuser steht das zweistöckige Fachwerkhaus, dessen Fundament und dessen Erdgeschoß aus Stein sind, auf einem schmalen Grundstück. Das erste und das zweite Obergeschoß hat man ein Stück übertreten und in die Straße hineinragen lassen. Das zweite Geschoß ist sogar nur einen Armbreit von der ihr gegenüberliegenden Nachbarmauer entfernt. Das Dach ist mit Tonziegeln, "Biberschwänzen" genannt, versehen worden, und in der ersten Etage befinden sich Glasfenster. Alle anderen Fenster fallen sehr viel kleiner als diese aus, sind ohne Glasscheiben und im Erdgeschoß sogar vergittert. Seilzüge und Ladeluken ermöglichen die Stapelung von Waren und Vorräten im zweiten Obergeschoß.

Ein riesiges Tor auf der rechten Haushälfte gewährt den Eintritt ins Innere. Ein großes Schild mit der Bezeichnung "Zum blauen Hans" wurde außen direkt über dem Tor angebracht. Das Erdgeschoß selbst wird von einer großen, über 4 m hohen Eingangshalle beherrscht. Obwohl fast immer beide Tore, das Außentor und das Innentor zum Hof hin, offen stehen, stinkt es hier fürchterlich nach Urin und Schweiß! In fünf großen Steinbottichen, die teils in der Halle, teils draußen auf dem Innenhof zu finden sind, werden Stoffe jeglicher Art blau gefärbt.

Links vorne in der Halle führt eine Tür in den Verkaufsraum. Dort werden den Kunden die verschiedenen Stoffe zum Anschauen und Anfassen ausgelegt. Barbara hilft ihrem Mann oft im Laden. Hinten links in der Halle führt eine andere kleine Tür in die weiträumige, niedrige Küche. Über ihr wurde ein Zwischengeschoß, zu dem eine kleine Treppe führt, errichtet, in dem die Knechte, Lehrlinge und Gesellen ihre Schlafstätten haben.

Ein beißender Geruch empfängt jeden, der die Küche betreten muß. Barbara versucht, den Aufenthalt hier einigermaßen erträglich zu gestalten, indem sie Thymian ausstreut. Die stinkenden Talgkerzen aber geben der Küchenatmosphäre den Rest. Manchmal ist es hier, wenn es auch noch nach kaltem Hammelfett, gekochtem Kohl usw. riecht, kaum auszuhalten. Dabei gibt es in der Küche soviel Neues zu entdecken! Wie hält das nur der kleine Spatz aus, der in einem metallenen Vogelkäfig an der Decke gefangengehalten wird?

herrschaftliche Küche
Abb. 19: Blick in eine herrschaftliche oder großbürgerliche Küche

Den meisten Platz nimmt in der Küche der große, bis zu meinen Waden reichende, aus Ziegelbruchstücken gemauerte Herd und sein weit heruntergezogenes Kamindach ein (Abb. 19).

Die zwei winzigen Fenster ohne Glas lassen leider wenig Luft und Tageslicht hinein, und im Winter werden diese Öffnungen zudem noch wegen der Kälte mit Leinentüchern behangen. Deshalb muß die Küche jetzt auch den ganzen Tag über künstlich beleuchtet werden. Neben den Talgkerzen werden Kienspäne, die mit Flachs und Hanf umwickelt und mit flüssigem Harz getränkt wurden, in besonderen Eisenfassungen an den steinernen Wänden angebracht. Die niedrige Decke weist große Holzbalken auf, und der Boden wurde mit Ziegelfliesen ausgelegt.

Über dem Herdfeuer werden an eine wie eine Säge gezackte, verstellbare Vorrichtung Kessel aufgehängt, aus denen die Mägde das heiße Wasser mit einer langstieligen, schüsselförmigen Kelle abschöpfen können, und in die Flamme stellt man Dreifüße, auf denen eiserne Pfannen zum Kochen, Braten, Rösten und zum Backen zu finden sind. Für diese Pfannen gibt es auch passende Deckel. Manchmal wird auch ein Bratspieß für das Geflügel über dem Feuer installiert. Der Spieß liegt dann auf zwei Gestellen und wird durch eine am stumpfen Ende angebrachte Kurbel ständig gedreht. Meistens wird die 9-jährige Mechthild zu dieser Arbeit verdammt! Taleke leistet ihr jedoch jedesmal Gesellschaft, da sie mit dem Blasebalg das Feuer anzuschüren hat.

Ein Faltstuhl ohne Lehne, aber mit Stoffsitz, ein vierbeiniger, rechteckiger Tisch, ein Trog als Spülbecken und eine Holzwassertonne mit zwei Schöpffässern füllen neben dem Herd das Innere der Küche. Auf dem Tisch wird das Fleisch auf hölzernen Brettchen in Scheiben oder Würfeln geschnitten. Das Mehl, die Gewürze und die anderen Zutaten können mittels einer Waage, die sich aus einem eisernen Balken mit zwei Messingschalen zusammensetzt, abgewogen werden. Die dazugehörigen Gewichte sind aus Stein.

ein Grapen
Abb. 20: Ein Grapen aus dem Kloster Heiligengrabe; die kleineren Grapen waren zu Beginn des 14. Jhs. für den Preis eines Schafes zu erstehen. Die großen, für die Klosterküchen üblichen Grapen kosteten dagegen drei oder vier gesunde Pferde oder sechs bis acht Kühe

Das Metallgeschirr und die Tonwaren befinden sich auf sechs langen Wandbrettern verteilt. Kannen, Kessel, Töpfe, Pfannen, Schüsseln, Kellen, Zangen, Schürstangen, Krüge, Näpfe, Schälchen, Flaschen, Mörser, Fleischgabeln, Messer mit Stahlklingen und Holzgriffen und Löffel sind auf ihnen zu entdecken. Eiserne Roste verschiedenster Größe wurden an die Wände gelehnt, und drei eherne Grapen (Abb. 20) und mehrere Krüge sind in Wandnischen untergebracht worden. Und ein mittelgroßer Holzkasten neben dem Küchentisch birgt die Nahrungsmittel, die an dem Tag direkt verwertet werden.

Hate, die mit 28 Jahren älteste Magd hier im Hause, ist froh, daß ihre Herrschaften so vermögend sind und sich Eß- und Trinkgefäße aus Zinn leisten können. Sie erklärte mir, daß Küchengeräte aus Kupfer und Messing äußerst sauber gehalten werden müßten, sonst würden sie sofort Grünspan ansetzen. Deshalb seien Gegenstände, die man nicht immer regelmäßig peinlich putzen könnte wie z.B. der kupferne Brunneneimer, der viel draußen stehen oder sogar im Brunnen hängen würde, auch bei ärmeren Herrschaften innen verzinnt.

Von der Küche und von der Straße aus gibt es Zugänge zum großräumigen Keller, in dem Holz, Holzkohle, große Salzfässer, Lebensmittel wie eingelegtes Gemüse, Getreide, ein Butter- und ein Essigfaß, mehrere Bier- und Weinfässer gelagert werden. Ein Braubottich, einige hölzerne und blecherne Trichter und ein Gerät zum Wenden des Malzes deuten daraufhin, daß hier noch selbst gebraut wird.

Der Innenhof weist in der Nähe seiner rechten Mauer einen Brunnen und in der Mitte drei große Steinbottiche auf. Um diesen Hof herum gruppieren sich noch einige Holzbauten. Neben der Küche liegt z.B. ein kleiner Waschraum. Dort wird in einem Faß, das auf zwei Paar gekreuzten Holzstäben ruht, gewaschen. Ich habe Elisabeth gestern beim Wäschewaschen beobachten können. Das Wasser wird üblicherweise mit Eimern vom am Hinterhof vorbeifließenden Fluß geholt. Da der Fluß aber zugefroren ist, füllte Elisabeth ihre Eimer mit am Ufer liegendem Schnee, den sie in der Küche über dem Herdfeuer zum Auftauen brachte. Dann stopfte sie die schmutzige Wäsche ins Faß, goß das erwärmte Wasser hinzu und breitete über das ganze noch ein grob gewebtes Leinentuch. Über dieses Tuch schüttete sie schließlich mehrmals eine Aschenlauge aus Buchenholz, die langsam durchsickerte und wie Seifenpulver die Wäsche reinigen sollte. Das schmutzige Wasser wurde zuletzt durch ein Loch im Faß abgelassen. Als Waschkorb diente ihr ein großer runder Korb mit zwei Henkeln.

Neben dem Waschraum steht eine Tonne, in die das Regenwasser über hölzerne Dachrinnen am Haus geleitet wird, und in der rechten Ecke des Innenhofes konnte ich noch die Reste von drei kleinen Gärten entdecken. In der warmen Jahreszeit baut Barbara hier für ihre Familie frisches Gemüse, Obst und einige Gewürzpflanzen an. Ein Stück Land außerhalb der Stadt wird im Frühling, Sommer und im Herbst von den Mägden und Knechten bearbeitet, damit genug frische Lebensmittel vorhanden sind. Die Ställe, in denen vier Kühe, sechs Schweine, zwei Esel, eine Ziege, zwei Pferde und unzählige Hühner untergebracht sind, befinden sich direkt gegenüber dem Innentor.

Links neben der Waschküche liegt die Badestube mit ihren zwei runden hohen Sitzwannen, und neben der Badestube befindet sich die Gemeinschaftstoilette.

Im Haus führt eine einfache Holztreppe, die sich direkt neben der Küchentür in der Eingangshalle befindet, in die erste Etage.

Hier oben gibt es vier Zimmer: die Stube, zwei Schlafzimmer und einen kleinen Raum, von dem aus die Kachelöfen in der Stube und in einem der Schlafzimmer mit Holz und Holzkohle bestückt werden können.

In der niedrigen Stube sind sowohl die Wände als auch die Decke getäfelt und mit figürlicher Malerei geschmückt. Zwei Vogelkäfige aus Messing hängen von der Decke herab. Den Boden verlegte man mit dreieckigen bunten Steinen. Zwei zweiteilige Fenster lassen zurzeit kaum Licht hinein. Das obere Drittel der Fenster weist eine Rautenscheibenverglasung auf und ist nicht zu öffnen. Der untere Teil ist ohne Verglasung und auf jeder Fensterhälfte durch zwei Holzläden verschließbar. Wegen des kalten Wetters werden die Läden momentan nur kurz zum Lüften geöffnet. Der Kronleuchter an der Decke und die sechs Metalleuchter, die verteilt auf Wandbrettern und auf dem Tisch stehen, sorgen für eine einigermaßen passable Beleuchtung.

Der Innenraum selbst ist gefüllt mit einer Truhenbank mit Lehne, zwei Faltstühlen, zwei kostbaren Stühlen mit geschnitzter Rückenlehne, einer Besucherbank, die aus glatten Brettern und zwei Schragen zusammengesetzt wurde, und einem Schragentisch, der mit netzartigen Tischtüchern geschmückt wird. Die Besucherbank wurde nur unseretwegen aufgestellt. Der Platz zum Sitzen reicht sonst nämlich nicht aus. Normalerweise steht sie, in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt, im Flur. Der bunte Kachelofen nimmt die rechte Ecke gegenüber der Fensterfront ein. Die Wandflächen sind mit vier Wandbrettern und zwei zierlichen Truhen versehen worden.

Auf den Brettern ist hauptsächlich Zinngeschirr zu entdecken, und auf der einen kleinen Truhe sind eine Holztafel, die die Leiden von zwei Heiligen darstellt, und eine Heilige Anna-Statue aus Keramik zu bewundern. Die Heilige Anna hat tatsächlich einen echten kleinen Seidenmantel über ihre Tonschultern gelegt bekommen. Ein kleines Schächtelchen mit Konfekt, zwei Büchsen, gefüllt mit geschätzten Salben und Heilkräutern, und ein Holzgestell mit Einkerbungen, in die 12 kurzstielige silberne Löffel eingehängt wurden, schmücken die andere Truhe.

Zum Essen werden aus der Truhenbank die silbernen Trinkgefäße herausgeholt. Ein achtarmiger zinnerner Tischleuchter ziert im allgemeinen den Mittagstisch. Viereckige Holzbrettchen zum Fleischschneiden, ein Messer und eine Brotscheibe pro Person, ein Salzfäßchen, ein Senfbehälter und ein großer Löffel, der als Vorlegelöffel dient und am Stielende eine Jesusfigur aufweist, werden regelmäßig vor dem Essen auf den Tisch gelegt. Die Speisen werden in großen Zinnschüsseln aufgetragen; in kleinen Zinnschalen, Salsern genannt, wird der mit aufgeweichtem Brot angedickte Gewürzbrei gereicht, der, nebenbei gesagt, ekelhaft schmeckt. Damit die heißen Schüsseln den Tisch nicht berühren, bringen die Mägde stets zum Ring gebogene Ruten, die auf drei Füßen ruhen, aus der Küche mit. Um den Wein während der Mahlzeit kalt zu halten, wird die zinnerne Weinkanne in einen kupfernen Kühlkessel auf den Boden neben dem Tisch gestellt. Bier, nebenbei bemerkt, wird nie aus Silbergefäßen getrunken. Dafür werden extra Zinnbecher auf den Tisch gestellt.

In der Stube wie in den beiden niedrigen Schlafzimmern befinden sich Waschvorrichtungen, die aus einem Kessel und einer Waschschüssel bestehen. Jeder muß sich vor dem Essen hier die Hände waschen. Das Handtuch zum Abtrocknen hängt direkt neben dieser Waschvorrichtung auf einer Holzrolle.

Die Schlafzimmer sind unterschiedlich groß. Das größere Schlafzimmer gehört momentan den Gastgebern und Holger und mir. Die Kinder sind ins kleinere Schlafzimmer abgeschoben worden, in dem normalerweise die Mägde liegen. Mechthild und Taleke müssen nun aus Platzgründen in der Badestube schlafen. Unser Zimmer besitzt zwei hohe Bettkästen, in die man durch Truhenbänke, die links und rechts direkt neben dem Bett stehen, gelangt. Die Schlafstätten selbst sind von einem bunten Betthimmel umgeben, haben Daunenmatratzen, Leinentücher, viele Kissen, Daunen- und Wolldecken. In den kurzen, aber immerhin 1,50 m breiten Betten muß sich Holger die Schlafstätte mit Herrn Bussow und ich mit Barbara teilen.

Die Truhenbänke sind mit Bettwäsche, Handtüchern und einigen Silbergefäßen gefüllt worden. Der enge Raum ist dann noch mit einer großen Truhe, die einen gewölbten Deckel und Seitenwände mit zierlichen Giebeln aufweist, einem Kastentisch, einer Bank, einem Kachelofen und einem Faltstuhl vollgestopft worden. In der kostbaren Truhe, die reich geschnitzt ist und mit zierlichen Eisenbeschlägen versehen wurde, befindet sich die gesamte Kleidung der Familie. Und der Kastentisch läßt sich durch mehrere Türchen öffnen und dient zur Aufbewahrung von Schmuck, Geld, Briefen und Rechenbüchern.

Das Schlafzimmer Nr. 2 ist nicht nur viel kleiner, sondern auch kläglicher als unser Zimmer ausgestattet worden. Kostbare Truhen, bunte Betthimmel und den wärmenden Kachelofen sucht man hier vergebens.

In der zweiten Etage, zu der eine weitere Holztreppe führt, befinden sich die Vorratskammern. Truhen in allen Größen machen die zwei vorhandenen Zimmer kaum begehbar. In einem Raum werden besonders viele Stoffballen, Wachskerzen und andere Kostbarkeiten gelagert, der andere wird zur Aufbewahrung von Lebensmitteln verwendet. So hängen von seiner Decke z.B. recht appetitlich die geräucherten Würstchen vom letzten Schlachtfest herab.

So, es wird Zeit, der Hausherr möchte schlafen. Tschüß!

Claudia

Eintrag 11

Heinkes Notizen vom 8. Dezember 1437

Es herrscht hier eine sibirische Kälte! Ich bin den ganzen Tag nur am Frieren. Unsere Gastgeberin, die gesehen hatte, daß ich noch kurz einige Notizen machen wollte, hat mich mit einer fahrbaren Feuerpfanne direkt neben meinen Füßen verwöhnt. Dieses Bronzegestell, gefüllt mit glühender Holzkohle, läuft auf vier Rädern und besitzt an den Schmalseiten zwei Griffe.

Gerade jetzt, es ist gleich 19.30 Uhr, werden die Abortgruben entleert. Fünf Nachtarbeiter müssen den Grubeninhalt auf Pferdekarren laden und in einiger Entfernung von der Stadt in den Fluß kippen. Um die Geruchsbelästigung möglichst gering zu halten, darf dieser Tätigkeit nur zwischen dem Gallustag (dem 16.10.) und dem Ambrosiustag (dem 4.4.) und dann auch nur während der Nacht nachgegangen werden.

Uah! Sie scheinen den Kot „tonnenweise“ auf den Karren zu schaufeln. Das muß doch mal ein Ende haben!

Anscheinend werden die Abfallgruben bis zum „Hals“ gefüllt.

Magdalena bestätigt gerade meine Vermutung. Da es sehr teuer ist, hat man es nicht besonders eilig mit dem Entleeren. Vor 17 Jahren soll die letzte Fäkalienabfuhr bei unseren Gastgebern stattgefunden haben.

Das heimliche Gemach und das Scheißhüslein sind durch Röhren mit der unterirdischen Abortgrube verbunden, die selbst acht Meter unter dem Boden liegen soll und ein Volumen von 30 m3 aufweist. Das Trinkwasser wird, nebenbei erwähnt, aus der gleichen Schichttiefe entnommen, in die diese Abortgruben münden. Auf der Häuserrückseite, also zwischen den gegenüberliegenden Rückseiten zweier Häuserreihen, befindet sich ein offener, gepflasterter Abzugsgraben. Laut Otto darf dort nur schmutziges Wasser hineingekippt werden. Aber einige scheinen auch ihre überfälligen Abortgruben dorthin zu entleeren.

Maria habe ich gerade ausgehorcht, wie es mit dem Wurmbefall in diesem Haus aussieht. Danach habe ich kaum Chancen, ungewurmt davon zu kommen. Mensch, sind die hier naiv! Maria wollte mir weismachen, daß die Würmer im Körper von ganz allein entstehen! Als Gegenmittel empfiehlt sie Ruß vom Schornstein, die Asche verbrannter Schuhsohlen, Harn, Rinderkot, gedörrte Garten- und Feldwürmer ...

Durch Erregen von Ekel könnte man nämlich die Würmer vertreiben!

Vati, ich brauche deine Medikamente! Heinke

(für die Einträge 4 bis 49 siehe mein E-Book oder Buch)


Das schönste Lob, das sich wohl jeder Autor für seine Werke von Herzen wünscht, wurde diesem Buchprojekt von drei Rezensentinnen bei amazon.de erteilt:

„Gäbe es doch mehr davon... Hier sind 6 Sterne zu wenig!:
Ob man nun auf ihrer Homepage stöbert, oder sich immer und immer wieder ihre Bücher zu Gemüte führt: Frau Vogt-Lüerssen ist unerreicht auf dem Gebiet, Geschichte einleuchtend, dynamisch, humorvoll, lebensnah und absolut treffsicher zu schildern! Ich weiß nicht, wie oft ich ihre Bücher schon weiterempfohlen, verschenkt und verliehen habe - bisher konnte ich noch jeden begeistern! Lange Zeit gab es diese Zeitreise nur Online - ich habe nächtelang darüber völlig Zeit und Raum vergessen; war am Ende immer enttäuscht, daß schon wieder Schluß war und begann von Neuem. Hier sind so viele Details festgehalten, als wäre man mit Digitalkamera und Mikrophon durch das MA gestolpert. Ich kann nicht anders: Ein Fan von der ersten bis zur letzten Seite jedes ihrer Bücher zu sein!“

„Sehr kompetent! 20. Juni 2007:
Als Historikerin in der Erwachsenenbildung war ich von diesem Buch angenehm überrascht und aufs Höchste angetan. M. Vogt-Lüerssen überzeugt durch ihre Fachkenntnisse ebenso wie durch ihre plastische und flüssige Art des Erzählens. Hier war eine Geschichtskundige mit großem Sachwissen und viel Liebe zum Detail am Werk. Man fühlt sich ganz zwanglos mitten in historische Szenerien hineinversetzt und kann förmlich darin schwelgen. Sehr beachtlich übrigens auch das Buch der Autorin über Lucrezia Borgia.“

„Zeitreise 1, 4. April 2005:
Das Buch ist einfach nur zu empfehlen. Wer sich für das Mittelalter interessiert ist hier gut beraten. Es ist sehr realitätsgetreu und informativ. Man kann immer wieder nachschlagen. Also kaufen und lesen.“

„Informativ, interessant, entspannend, 9.12.2016 (von Siegfried Schmitz):
Gefällt mir gut, wie sich Frau Maike Vogt-Lüerssen in die Zeit versetzt, über die sie berichtet und virtuelle Erlebnisse schildert. Das Schöne daran ist auch die Bebilderung. Malereien aus der Zeit werden erläutert und tragen zum Verständnis bei. Eine entspannende Lektüre, auf die ich mich immer wieder freue, wenn ich sie hochlade.“

Wer immer diese unbekannten Rezensentinnen sind, ich möchte Ihnen aus vollstem Herzen danken. Wenn mich wieder einmal eine depressive Phase erwischt und ich mich bezüglich meiner Bücher und meiner Webseite frage, was ich da eigentlich tue, ob das, was ich da mache und für das ich so viel Zeit in meinem Leben verwende, überhaupt Sinn und Zweck hat, werde ich mir diese positiven Kommentare anschauen. Sie werden mir Kraft und Zuversicht zum Weitermachen geben.


Lesetipps:

als Buch und als E-book

Zeitreise 1 – Besuch einer spätmittelalterlichen Stadt
als Buch, Independently published, 264 Seiten, 93 SW-Bilder, € 12,54, ISBN 978-1-5497-8302-9
und als E-Book